Künstliche Intelligenz findet Wege zu neuen Medikamenten

Ein neues KI-Modell von Chemikern der ETH Zürich kann vorhersagen, an welchen Stellen ein Wirkstoffmolekül gezielt chemisch ver?ndert werden kann und auch, wie dies am besten gemacht wird. Dadurch lassen sich neue pharmazeutische Wirkstoffe schneller finden und bestehende verbessern.

Rot-weisse Kapsel im Vordergrund, im Hintergrund Hardware welche für maschinelles Lernen gebraucht wird
Bei der Suche nach Wirkstoffen für die Medikamente von morgen hilft die Künstliche Intelligenz. Bild: KI-generiert mit Firefly (Visualisierung: ETH Zürich)

In Kürze

  • Das Finden und Herstellen von neuen Medikamenten ist bisher aufwendig. Forschende der ETH Zürich haben ein KI-Modell entwickelt, das mithilft, geeignete Molekülstellen für die Entwicklung neuer Wirkstoffe zu finden.
  • Ausgetestet haben die Chemiker:innen das Verfahren an einer Reaktion zur Aktivierung von Kohlenwasserstoffgerüsten – der sogenannten Borylierung.
  • Durch die KI-Methode kann die Entwicklung neuer und die Optimierung von bestehenden Medikamentenwirkstoffe beschleunigt werden.

Neue Wirkstoffmoleküle legen die Grundlage für innovative und bessere medizinische Therapien. Sie zu finden und vor allem auch sie herzustellen, in dem man sie im Labor chemisch synthetisiert, ist aber alles andere als trivial. Um das optimale Herstellungsverfahren zu finden, gehen die Chemiker:innen normalerweise nach einem Trial-and-Error-Verfahren vor: Sie leiten aus bekannten chemischen Reaktionen m?gliche Wege für die Laborherstellung ab und testen dann jeden einzelnen mit Experimenten aus. Das ist aufwendig und von vielen Fehlschl?gen gepr?gt.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der ETH Zürich haben jetzt gemeinsam mit Forschenden von Roche Pharma Research and Early Development ein Verfahren entwickelt, das auf Künstlicher Intelligenz (KI) basiert und dabei hilft, die beste Synthesemethode inklusive ihrer Erfolgswahrscheinlichkeit zu bestimmen. ?Mit unserer Methode l?sst sich die Anzahl der Experimente im Labor markant verringern?, erkl?rt Kenneth Atz. Er hat das KI-Modell als Doktorand gemeinsam mit Professor Gisbert Schneider am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der ETH Zürich entwickelt.

Pharmazeutische Wirkstoffe bestehen in der Regel aus einem Gerüst, an das sogenannte funktionelle Gruppen gebunden sind, welche eine ganz bestimmte biologische Funktion erm?glichen. Die Aufgabe des Gerüsts besteht darin, die funktionellen Gruppen in eine definierte geometrische Ausrichtung zueinander zu bringen, damit diese gezielt wirken k?nnen. Das Prinzip ist mit einem Kranbaukasten vergleichbar, bei dem ein Gerüst aus Verbindungselementen so zusammengeschraubt wird, dass funktionelle Baugruppen wie Rollen, Seilwinden, R?der und Führerkabine richtig zueinander angeordnet sind.

Chemische Funktionen einführen

Um Arzneistoffe mit einer besseren oder neuen medizinischen Wirkung herzustellen, werden unter anderem funktionelle Gruppen an neuen Stellen der Gerüste platziert. Was einfach t?nt und bei einem Modellbaukran auch kein Problem w?re, ist in der Chemie besonders schwierig. Weil die vor allem aus Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen aufgebauten Gerüste selbst praktisch nicht reaktiv sind, lassen sie sich auch nur schwer mit funktionellen Atomen wie Sauerstoff, Stickstoff oder Chlor verbinden. Damit dies gelingt, müssen die Gerüste zuerst über Umweg-Reaktionen chemisch aktiviert werden.

Porträtfoto von Kenneth Atz
?Mit unserer Methode l?sst sich die Anzahl der Experimente im Labor markant verringern.?
Porträtfoto von Kenneth Atz
Kenneth Atz

Eine Aktivierungsmethode, die auf dem Papier sehr viele M?glichkeiten für unterschiedliche funktionelle Gruppen er?ffnet, ist die sogenannte Borylierung. Dabei wird eine chemische Gruppe, die das Element Bor enth?lt, an ein Gerüst-Kohlenstoff-Atom gebunden. Die Bor-Gruppe l?sst sich dann in einem zweiten Schritt einfach durch eine ganze Reihe von medizinisch wirksamen Gruppen ersetzen.

Daten aus vertrauenswürdigen Quellen

?Die Borylierung hat zwar ein grosses Potenzial, die Reaktion ist im Labor aber nur schwer zu kontrollieren. Deshalb haben wir bei einer umfassenden weltweiten Literaturrecherche auch nur etwas mehr als 1700 wissenschaftliche Arbeiten dazu gefunden?, beschreibt Atz die Ausganglage seiner Arbeit.

Die in der wissenschaftlichen Literatur beschriebenen Reaktionen sollten die Daten für das Training eines KI-Modells liefern, mit dem das Forscherteam m?glichst alle Stellen in neuen Molekülen finden wollte, an denen eine Borylierung überhaupt m?glich ist. Für das Modell konnten die Forscher:innen allerdings nur einen Bruchteil der gefundenen Literatur nutzen. Damit es nicht durch falsche Ergebnisse aus unsorgf?ltigen Forschungsarbeiten in die Irre geleitet wird, hat man sich auf 38 besonders vertrauenswürdige Arbeiten beschr?nkt. In diesen wurden insgesamt 1380 Borylierungs-Reaktionen beschrieben.

Um den Trainingsdatensatz zu erweitern, wurden die Literatur-Ergebnisse durch die Auswertungen von 1000 Reaktionen erg?nzt, die im automatisierten Labor der medizinal-chemischen Forschung von Roche durchgeführt wurden. In diesem lassen sich viele chemische Reaktionen gleichzeitig im Milligramm-Massstab durchführen und analysieren. ?Die Kombination von Laborautomatisierung und KI hat enormes Potenzial, die Effizienz in der chemischen Synthese massgeblich zu erh?hen und gleichzeitig nachhaltiger zu agieren?, erl?utert David Nippa, der als Doktorand vonseiten Roche gemeinsam mit Atz das Projekt realisiert hat.

Hohe Vorhersagekraft vor allem mit 3D-Daten

Verifiziert wurden die Vorhersagef?higkeiten des aus diesem Datenpool generierten Modells anhand von sechs bekannten Wirkstoffmolekülen. Dabei liessen sich die prognostizierten zus?tzlichen Stellen in fünf von sechs F?llen durch die experimentelle ?berprüfung im Labor best?tigen. Stellen, an denen in den Gerüsten keine Aktivierung m?glich ist, wurden genauso zuverl?ssig identifiziert. Zus?tzlich lieferte das Modell die jeweils optimalen Bedingungen für die Aktivierungsreaktionen.

Porträtfoto von Gisbert Schneider
?Dieses Projekt zeigt das enorme Potenzial von Public-Private Partnerships für die Schweiz auf.?
Porträtfoto von Gisbert Schneider
Gisbert Schneider

Interessanterweise wurden die Vorhersagen besser, wenn auch die 3D-Informationen der Ausgangsstoffe und nicht nur ihre zweidimensionalen chemischen Formeln miteinbezogen wurden. ?Das Modell scheint eine Art von dreidimensionalem chemischem Verst?ndnis zu entwickeln?, vermutet Atz.

?berzeugt hat die Erfolgsrate der Vorhersagen auch die Forschenden von Roche Pharma Research and Early Development. Sie haben die Methode inzwischen bereits erfolgreich eingesetzt, um in bestehenden Wirkstoffen Stellen zu finden, an denen zus?tzliche aktive Gruppen eingeführt werden k?nnen. Dies hilft ihnen, schneller neue und wirkungsvollere Varianten von bekannten Medikamentenwirkstoffen zu entwickeln.

Andere Funktionalisierungen im Visier

Atz und Schneider sehen zahlreiche weitere Anwendungsm?glichkeiten von KI-Modellen, die auf einer Kombination von Daten aus vertrauenswürdiger Literatur und aus Experimenten eines automatisierten Labors beruhen. Auf diese Weise sollten sich beispielsweise auch effektive Modelle für andere Aktivierungsreaktionen als der Borylierung finden lassen. Zudem erhofft sich das Team eine gr?ssere Palette an Reaktionen, um die borylierten Stellen weiter zu funktionalisieren.

An dieser Weiterentwicklung ist Atz nun als KI-Wissenschaftler in der medizinal-chemischen Forschung von Roche beteiligt: ?Es ist unglaublich spannend, an der Schnittstelle von akademischer KI-Forschung und Laborautomatisierung zu arbeiten. Und es bereitet Freude, diese mit den jeweils besten Inhalten und Methoden weiterentwickeln zu k?nnen.? Schneider erg?nzt: ?Dieses innovative Projekt ist ein gelungener Brückenschlag zwischen Akademie und Industrie, der das enorme Potenzial von Public-Private Partnerships für die Schweiz aufzeigt.?

Literaturhinweis

Nippa DF, Atz K, Hohler R, Müller AT, Marx A, Bartelmus C, Wuitschik G, Marzuoli I, Jost V, Wolfard J, Binder M, Stepan AF, Konrad DB, Grether U, Martin RE, Schneider G: Enabling Late-Stage Drug Diversification by High-Throughput Experimentation with Geometric Deep Learning. Nature Chemistry, 23. November 2023, doi: externe Seite 10.1038/s41557-023-01360-5

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