«Die Schweizer Gletscher könnten bis 2100 ganz verschwinden»

Den Schweizer Gletschern geht es immer schlechter. Wenn der Treibhausgasausstoss nicht bald rasch sinkt, k?nnte es bis 2100 keine mehr geben, sagt ETH-Professor Daniel Farinotti im ETH-News-Interview zum ersten internationalen Welttag der Gletscher.

Vergleich eines Gletschers im Jahr 1930 und 2022

In Kürze

  • Falls die globale Erw?rmung bei 1,5°C bis 2°C stabilisiert wird, k?nnte ein Viertel des Gletschereises in der Schweiz gerettet werden.
  • Durch das Abschmelzen der Gletscher wird in der Schweiz langfristig weniger Wasser zur Verfügung stehen, etwa für die Bew?sserung in der Landwirtschaft und für die Erhaltung von ?kosystemen.
  • Mit dem Glacier Stewardship Program wollen Forschende der ETH Zürich und der EPFL wissenschaftlich untermauerte Strategien entwickeln, um die Gletscherschmelze lokal zu verlangsamen.
Wie stark die Gletscher in der Schweiz seit 1930 geschmolzen sind, zeigt ein Vergleich des Gornergletschers im Jahr 1930 und 2022. (Bilder: swisstopo und VAW / ETH Zürich)

Herr Farinotti, wie alt waren Sie, als Sie zum ersten Mal einen Gletscher gesehen haben?
Daniel Farinotti: Das dürfte 1987 gewesen sein. Da besuchten wir als Familie den Rhonegletscher und es entstand ein Erinnerungsfoto von meinem Vater, meiner Schwester, mir und dem Gletscher.

K?nnen Sie sich erinnern, was Sie dabei empfunden haben?
Ich habe keine aktive Erinnerung daran, da ich noch sehr klein war. Gemessen am Gesichtsausdruck auf dem Foto, war mir aber kalt [lacht].

Werden ihre Enkelkinder und deren Kinder noch Gletscher in der Schweiz erleben?
Das h?ngt davon ab, ob es uns gelingt, die globalen Treibhausgasemissionen rasch zu reduzieren. Wenn wir so weitermachen wie bisher, verschwinden praktisch alle Gletscher in den Schweizer Alpen bis ins Jahr 2100. Falls wir hingegen das Pariser Klimaziel erreichen und sich die globale Erw?rmung bei 1,5°C bis 2°C stabilisiert, k?nnten unsere Enkelkinder zumindest ein Viertel des Eises in der Schweiz noch erleben.

Was heisst das konkret?
Damit würden immerhin die Gletscher oberhalb von rund 3300 Metern überleben. Auch ein Teil des Aletschgletschers mit seinen drei eindrücklichen Eisstr?men würde erhalten bleiben, auch wenn er viel kürzer und dünner würde. Für viele kleinere Gletscher in tieferen Lagen ist es allerdings bereits zu sp?t.

Zur Person

Porträt von Daniel Farinotti

Daniel Farinotti ist Glaziologe und seit 2023 Professor für Glaziologie an der ETH Zürich und der Eidgen?ssische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL. Er erforscht, wie sich Gletscher entwickeln und welche Folgen dies für die Wasserversorgung hat.

Wie steht es aktuell um die Gletscher in der Schweiz?
Leider schlecht. Seit dem Jahr 2000 hat das Gletschervolumen in der Schweiz um fast 40 Prozent abgenommen. Und jedes Jahr verlieren die Gletscher weiter an Eis. In den letzten Jahren war es besonders schlimm: Allein in den Jahren 2022 und 2023 haben wir wegen der Rekordtemperaturen im Sommer 10 Prozent des bestehenden Schweizer Gletschereises verloren.

Diese Dimensionen sind schwer zu fassen.
Vielleicht hilft eine Angabe zum Fl?chenverlust: Seit das Familienfoto 1987 am Rhonegletscher entstand, sind mehr als 300 km2 Fl?che eisfrei geworden – das entspricht fast dreieinhalb Mal der Fl?che des Zürichsees.

Warum schmelzen die Gletscher so schnell?     
Die Klimaerw?rmung ist klar der wichtigste Grund. Seit den 1970er Jahren ist die Durchschnittstemperatur in den Schweizer Alpen um 3 Grad Celsius gestiegen. Dadurch schmelzen die Gletscher im Sommer schneller und st?rker. ?nderungen im Winterniederschlag spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle.

externe Seite 2025 International Year of Glaciers’ Preservation

Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2025 zum Internationalen Jahr des Gletscherschutzes erkl?rt und gleichzeitig den 21. M?rz ab 2025 zum Welttag der Gletscher ausgerufen.

Welche Folgen hat der Gletscherschwund?
Das weltweite Abschmelzen der Gebirgsgletscher und der Eissschilde Gr?nlands und der Antarktis tr?gt massgeblich zum Anstieg des Meeresspiegels bei. In einer Studie haben wir gesch?tzt, dass die Gletscherschmelze zwischen 2015 und 2019 bis zu 21 Prozent des gemessenen Meeresspiegelanstiegs verursacht hat. Je nach Klimaszenario k?nnte der globale Meeresspiegel bis 2100 um einen halben bis einen ganzen Meter steigen – für Menschen in Küstenregionen w?re das verheerend. Und obwohl die Schweiz ein Binnenland ist, würden die mit dem Meeressspiegelanstieg verbundenen Migrationsbewegungen auch die Schweiz betreffen.

Wirken sich die schmelzenden Gletscher auch auf die Wasserversorgung aus?
Ja, mit dem Abschmelzen der Gletscher gehen regionale Süsswasserressourcen verloren. Man denke zum Beispiel an die Wasserversorgung des indischen Subkontinents. Diese wird nicht zuletzt von den Gletschern des Himalajas gespeist. Schrumpfen diese Gletscher, k?nnte das Wasser in bestimmten Perioden und Regionen buchst?blich knapp werden.

Was heisst der Gletscherschwund für die Schweiz?
Wenn wir beim Thema Wasserhaushalt bleiben, w?re durchaus auch die Schweiz betroffen. Kurzfristig bringt das Abschmelzen der Gletscher zwar mehr Wasser, doch der Effekt ist zeitlich begrenzt, denn irgendwann sind die Reserven ersch?pft.

Und dann?
Langfristig werden wir weniger Wasser zur Verfügung haben, etwa für die Bew?sserung in der Landwirtschaft und für die Erhaltung von ?kosystemen. Betroffen davon sind neben den Alpent?lern auch die grossen Flüsse Zentraleuropas Rhein, Rhone, Po und Donau, die derzeit vor allem in Trockenperioden im Sommer durch betr?chtliche Mengen an Schmelzwasser gespeist werden.

Was heisst das für die Wasserkraft?
Wir gehen davon aus, dass die Stauseen auch in Zukunft gefüllt werden k?nnen. Der Zufluss wird sich aber vom Hochsommer auf das Frühjahr verlagern und langfristig abnehmen. Die Bewirtschaftung dieser Seen muss diesem ver?nderten Wasserhaushalt Rechnung tragen.

K?nnen wir etwas gegen den Rückgang der Gletscher unternehmen?
Ja – unsere Treibhausgasemissionen so schnell wie m?glich reduzieren. Das ist der effektivste und nachhaltigste Schutz für die Gletscher. Und das bestechende an dieser Massnahme ist, dass damit auch eine Reihe von anderen Risiken reduziert werden k?nnen, wie etwa Hitzewellen, Starkniederschl?ge, Dürren, Waldbr?nde, Biodiversit?tsverlust, und und und.

Wie sieht es mit technischen Interventionen aus? Oft sieht man, dass Gletscher mit weissen Tüchern abgedeckt werden.
In der Schweiz werden auf einzelnen Gletschern seit rund 20 Jahren weisse Tücher, sogenannte Geotextilien, auf dem Eis ausgelegt. Diese Methode kann lokal 50 bis 70 Prozent des Abschmelzens verhindern. Allerdings sind solche Massnahmen nicht nur sehr teuer, sondern in ihrer Gr?sse auch nicht skalierbar. Ganze Gletscher lassen sich damit nicht retten. Zudem sind die Nebenwirkungen und Umweltbelastung kaum untersucht. Eine ?L?sung? für den weltweiten Gletscherschwund sind die Tücher also nicht.

Das Glacier Stewardship Program

Das Programm zur Erhaltung der Gletscher ist eine von Forschenden der ETH Zürich, der EPFL und Universit?t Innsbruck lancierte Initiative, an der über 20 Universit?ten weltweit beteiligt waren. Das Ziel des Programmes ist, wissenschaftlich untermauerte Strategien zu entwickeln, um die Gletscherschmelze lokal zu verlangsamen, gletscherbedingte Gefahren durch gezielte Warnsysteme zu mindern und die im Gletschereis eingeschlossene mikrobielle Artenvielfalt mittels einer Biobank zu erhalten.

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