Warum Nationalisten kaum mit nationalistischen Retourkutschen rechnen

Nationalismen nehmen in vielen Weltteilen in be?ngstigendem Masse zu. Der Konfliktforscher Lars-Erik Cederman erl?utert den paradoxen Effekt, dass Nationalisten offenbar immer wieder den Nationalismus anderer untersch?tzen. Das k?nnte sich auch beim Angriff auf den Iran wieder bewahrheiten.
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Die Gegner des Nationalismus untersch?tzen oft dessen Kraft. Die Liste von solchen F?llen ist lang und reicht vom ?sterreichischen Fürsten Klemens von Metternich, der 1848 zurücktreten musste, bis zum letzten Pr?sidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Noch überraschender ist jedoch, dass die Nationalisten selbst oft genauso überrascht waren von den nationalistischen Gegenreaktionen.
Die Regierung von Benjamin Netanjahu war v?llig unvorbereitet, als am 7. Oktober 2023 Wellen von Hamas-K?mpfern in den Süden Israels eindrangen und ein Blutbad anrichteten, das die schlimmsten Verluste unter Juden seit dem Holocaust zur Folge hatte. Nachdem die Regierung Netanjahu die Hamas durch wiederholte ?Rasenm?her-Eins?tze? einged?mmt hatte, glaubte sie, den pal?stinensischen Nationalismus unter Kontrolle zu haben, was ihr erm?glichte, ihre Besetzung des Westjordanlands weiter voranzutreiben.
Ebenso erwarteten die russischen Streitkr?fte 2022 bei ihrem Einmarsch in die Ukraine, dass Kiew innerhalb weniger Tage fallen würde. Aber Putins Eroberungspl?ne sind am entschlossenen Widerstand der Ukrainer:innen gescheitert. Selbst ein nationalistischer Politiker wie US-Pr?sident Donald Trump, der sein Land an erste Stelle setzt, scheint gegenüber dem Nationalismus ausserhalb der Landesgrenzen blind zu sein, wenn er die Eingliederung Kanadas in die USA fordert und damit den Weg für die Wahl des Liberalen Mark Carney ebnet.
Zum Autor
Lars-?Erik Cederman ist Professor für Internationale Konfliktforschung. Er besch?ftigt sich unter anderem intensiv mit den Auswirkungen nationalistischer und imperialistischer Politik.
Warum sind Nationalisten für solche ?berraschungen anf?llig? Der Hauptgrund liegt in ihrer ausschliesslichen Fokussierung auf die eigenen Interessen. Aber es gibt einen noch rücksichtsloseren Aspekt des Nationalismus, insbesondere wenn er mit dem Imperialismus zusammenwirkt. W?hrend der Nationalismus und der Imperialismus oft als Gegens?tze wahrgenommen werden, k?nnen nationalistische Bestrebungen mit einer imperialistischen Denkweise koexistieren – wenn auch oft unbeholfen und letztlich nicht nachhaltig.
Genau diese ideologische Spannung charakterisierte die europ?ischen Grossm?chte im 19. und 20. Jahrhundert nach der Formel: ?Nationalismus zu Hause und Imperialismus in den Kolonien.? Obwohl sonst Antipoden, waren sowohl Adolf Hitler als auch Winston Churchill glühende Nationalisten und Imperialisten. So nahmen sie – in dieser eigentümlichen Gleichzeitigkeit – quasi die Weltanschauung der global einflussreichsten ?strongmen? von heute, darunter Wladimir Putin, Xi Jinping und wohl auch Donald Trump, vorweg.
Minderheiten verleugnen als Strategie
Obwohl die meisten Nationalisten eine perfekte ?bereinstimmung von Staat und Nation anstreben, tolerieren imperialistische Nationalisten in der Regel andere ethnische Gruppen. Natürlich nur, wenn diese die glorreichen Pl?ne des Herrenvolkes nicht beeintr?chtigen. Eine wirkungsvolle M?glichkeit, die Dominanz des St?rkeren zu rechtfertigen, besteht darin, die Existenz solcher Minderheiten zu leugnen. So bezeichnete der Imperialist Metternich Italien bekanntlich als ?blossen geografischen Ausdruck?. Diese Leugnung einer unabh?ngigen Identit?t ist auch der Kern der radikalen zionistischen Weigerung, die Pal?stinenser und Pal?stinenserinnen als Volk einer eigenst?ndigen Nation anzuerkennen.

Berüchtigt auch Putins Essay vom Sommer 2021, in dem er nicht nur die Ukraine, sondern auch die ukrainische Identit?t als ?künstlich? bezeichnete. In der Tat nehmen die Kanadier Trumps Versuch, die kanadische Souver?nit?t in Frage zu stellen, so ernst, dass sie ironischerweise K?nig Charles III zurückholten, um Ende Mai ihre Parlamentssitzungen zu er?ffnen.
Iranischen Regimewechsel anstreben
Diese Mischung aus Nationalismus und Imperialismus wird besonders sch?dlich, wenn sie revisionistische Aussenpolitik untermauert, die in extremen F?llen auf Angriffskrieg und Annexion abzielt. Tats?chlich wird immer deutlicher, dass Israels Angriff auf den Iran nicht nur darauf zielte, das Atomprogramm dieses Landes zu eliminieren, sondern auch einen Regimewechsel anzustreben. Premierminister Benjamin Netanjahu hat sich direkt an das iranische Volk gewandt und es aufgefordert, sich von den Ayatollahs zu befreien.
?Selbst ein nationalistischer Politiker wie Pr?sident Donald Trump, der sein Land an erste Stelle setzt, scheint gegenüber dem Nationalismus ausserhalb der Landesgrenzen blind zu sein.?Lars-Erik Cederman
Diese Einmischung in iranische Angelegenheiten erinnert an die Bemühungen, einen Umsturz im Irak herbeizuführen, der durch die US-Invasion von 2003 umgesetzt und von Versuchen begleitet wurde, die haschemitische K?nigsfamilie im Irak wieder einzusetzen. Heute haben die Befürworter eines Regimewechsels in Iran Kontakt zu den Nachkommen der Familie des verstorbenen Schahs aufgenommen, um eine solche Ver?nderung vorzubereiten.
Sich einmischen, ist in der ?ra des Nationalismus selten erfolgreich
Die Bilanz der vergangenen imperialistischen Kampagnen zum gewaltsamen Machtwechsel bleibt aber düster. Weder die Russen noch die Amerikaner wurden als Befreier begrüsst, als sie in die Ukraine und den Irak einmarschierten. Es ist wahrscheinlicher, dass Netanjahus Aufforderung an die Iraner, ihre eigene Regierung zu stürzen, den nationalistischen Widerstand eher st?rkt als schw?cht. Obwohl imperialistische Arroganz in Zeiten des Nationalismus zum Scheitern verurteilt ist, scheinen nationalistische Machthaber auf der ganzen Welt seltsamerweise nicht bereit zu sein, aus der Geschichte zu lernen. Ihre geopolitischen Abenteuer werden weiterhin Tod und Zerst?rung verursachen.
Ironischerweise k?nnte uns jedoch gerade der Nationalismus vor dem imperialistischen Nationalismus retten. Die ersten Risse in Trumps nationalistischer Plattform sind sichtbar geworden. Schon seine Erw?gung einer Intervention in Israels Angriffskrieg gegen den Iran hat Proteste unter seiner nationalistischen ?MAGA?-Basis ausgel?st, die seinen pazifistischen Wahlversprechen glaubt und hartn?ckig versucht, den amerikanischen Milit?reins?tzen im Nahen Osten ein Ende zu setzen.
Es besteht Hoffnung, dass die Befürworter riskanter Kriegseins?tze und politischer Interventionen am selbstzentrierten Nationalismus scheitern werden. Ebenso wird die nationalistische Retourkutsche Trumps imperialistische Bemühungen untergraben, die Monroe-Doktrin in Panama, Gr?nland oder Kanada wiederzubeleben. Letztendlich ist der imperialistische Nationalismus mit inneren Widersprüchen behaftet, die seinen ultimativen Untergang beschleunigen werden.