«Es gab eine richtige Welle von Frauen, die über Architektur schrieben»
Die ETH-Architekturhistorikerin Anne Hultzsch hat erforscht, wie Frauen zwischen 1700 und 1900 über Architektur geschrieben haben. Im Interview spricht sie über ihre Erkenntnisse – und über Autorinnen von der Hausfrau bis zur Prinzessin.?
Anne Hultzsch, Ihr Forschungsthema ist eher unbekannt, wie sind Sie darauf gekommen?
Die Idee kam unter anderem aus meiner Lehrerfahrung und einer gewissen Frustration mit dem Kanon der Architekturliteratur, der vor Mitte des 20. Jahrhunderts von m?nnlichen Figuren dominiert ist. Das ist nicht per se falsch, aber mir war es wichtig, ein inklusiveres Bild der Architekturgeschichte zu vermitteln. Also stellte ich mir die Frage: Wie k?nnen wir über Frauen oder andere historisch marginalisierte Gruppen sprechen? Eine m?gliche Antwort fand ich in meiner postdoktoralen Forschung zur britischen Druckkultur des 19. Jahrhunderts. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es eine richtige Welle von Frauen, die anfingen, für die ?ffentlichkeit zu schreiben und Bücher oder Zeitschriften herausgaben. So entstand die Idee für ?Women Writing Architecture?, kurz WoWA: Ich wollte über das Geschriebene von Frauen herausfinden, wie sie den gebauten Raum wahrgenommen, beeinflusst oder kritisiert haben.
Welche Texte haben Sie analysiert?
Es sind unterschiedliche Formen. Wir haben Bücher und Magazine untersucht, aber auch Briefe oder Flugbl?tter. Angefangen haben wir mit Reisebeschreibungen. Davon gab es viele, weil Frauen damals als besonders gut darin galten, ihre Sinnesempfindungen wiederzugeben. Diese Autorinnen reisten nach Rom, London, Indien und an andere Orte. Und danach ver?ffentlichten sie ihre Eindrücke der dortigen Architektur, der Geb?ude, Pl?tze und St?dte, aber auch der Landschaften, wie der englischen Landschaftsg?rten oder der Alpen. Diese Bücher waren oft sehr erfolgreich.
Zur Person
Die Architekturhistorikerin Anne Hultzsch ist Privatdozentin an der ETH Zürich. Seit 2021 leitet sie das europ?ische Forschungsprojekt ?Women Writing Architecture 1700-1900?. Sie studierte Architektur an der TU München und Architekturgeschichte am University College London, wo sie 2011 promovierte.
Schrieben Frauen anders als M?nner?
Wie R?ume von unterschiedlichen Geschlechtern wahrgenommen werden oder wer ein Recht auf ?ffentlichkeit oder Privatheit hat, ist in Texten von Frauen viel sichtbarer als in jenen von M?nnern, die sich meist als universelle Gesch?pfe darstellten. Wir haben auch viele politische Texte analysiert, im Kontext der Franz?sischen Revolution etwa von Mary Wollstonecraft oder Olympe de Gouges, die für Frauenrechte einstanden. Sie forderten etwa Besitzrechte für Frauen, was direkte Auswirkungen auf die Architektur hat. Daneben haben wir Handbücher angeschaut, unter anderem Kochbücher, die angaben, wie man eine Küche einrichtet oder welcher Haushalt wie viele Diener hat. Das übersetzt sich im Raum: Wenn in einem Haushalt Bedienstete die Kleider von G?sten in Empfang nehmen, ben?tigt man ein entsprechendes Vestibül. Etikettbücher erkl?rten, wie man sich zu benehmen hatte. Eine Frau von einem gewissen Stand konnte oft nur mit Begleitung das Haus verlassen. Eine Dienstmagd hingegen war allein in der Stadt unterwegs, weil sie Dinge erledigen musste.
Was für Frauen schrieben damals?
Zun?chst einmal waren es sehr viele Frauen, was uns überrascht hat. Für unsere Ausstellung drucken wir Postkarten zu hundert Frauen, deren Texte wir genau studiert haben. In unserer Liste gibt es noch viele mehr, die wir nicht im Detail recherchiert haben. Eine gewisse Breite war wichtig für das Projekt: Wir sprechen nicht von einzigartigen Ausnahmen. Es gibt sehr viele Frauen, die aus unserer Sicht relevant sind für die Architekturgeschichte dieser Epoche.
Die Mehrheit war privilegiert, schon allein, weil sie lesen und schreiben konnte. In unserem Buch kommen Adelige vor, eine Prinzessin, aber auch Frauen der unteren sozialen Schichten: eine ehemals versklavte Autorin, eine Hausfrau in Indien, eine ehemalige Schauspielerin in Deutschland. Eine englische Haush?lterin schrieb ein sehr erfolgreiches Kochbuch, in dem sie in Kuchenrezepten explizit architektonisches Vokabular verwendet: Da gibt es griechische Tempelfronten oder Chinoiserie, die damals in Europa beliebte Kunstrichtung, die sich an chinesischen und anderen asiatischen Vorbildern orientierte.
Und warum schrieben sie?
Viele, um Geld zu verdienen. Die Britin Jane Webb Loudon unterhielt mit ihren Gartenbüchern für Frauen ihre Familie. Neben Europa haben wir auch Südamerika untersucht. In Chile zum Beispiel gab es keine Druckpresse bis ins frühe 19. Jahrhundert, da ist der Kontext ein ganz anderer. Vor 1800 fanden wir dort vorwiegend Nonnen, die etwa über Klosterarchitekturen schrieben. Sp?ter gab es dann Frauenmagazine und popul?re Dichterinnen, die in unserem Buch untersucht werden.
Wie konnten sich die Frauen die Freiheit nehmen, zu schreiben?
Schreiben war wie ein Schlupfloch: Es wurde nicht so richtig als Arbeit angesehen, die Frauen konnten dies ja zu Hause tun. So wiesen sie die ihnen zugedachte gesellschaftliche Position nicht komplett ab. Nicht immer einfach, war Schreiben für Frauen durchaus m?glich. Wir finden so neben radikalen Standpunkten auch viele Frauen, die ein relativ angepasstes Leben führten und die Rollenbilder best?tigten oder nur subtil kritisierten. Beide Gruppen schrieben Wichtiges über die Architektur und helfen uns, Architektur und St?dte der Zeit aus ihrer Perspektive zu verstehen.
Wie hat sich dieses Rollenbild über die 200 Jahre von 1700 bis 1900 ver?ndert?
Das ist regional unterschiedlich und h?ngt von der gesellschaftlichen Schicht ab. Wichtig ist, dass die Gesellschaften damals viel diverser waren, als wir heute oft annehmen. Die sogenannte Befreiung der Frau verlief auch nicht linear. Ein Beispiel: Der Code Civil von Napoleon, folgend auf die Franz?sische Revolution, schieb zwar Freiheit und Gleichheit für viele M?nner fest, aber die Rechte der Frauen – und anderer Gruppen – wurden effektiv beschr?nkt, auch in Bezug auf Grundbesitz, mit direkten Auswirkungen auf die Baukultur. Erst Anfang der viktorianischen Epoche in Grossbritannien verfestigte sich das Bild der Frau als nach Hause geh?rend. Im deutschsprachigen Raum war das Rollenbild gegen Ende des 19. Jahrhunderts für gewisse Gesellschaftsschichten viel starrer als um 1700. Die Figur der Hausfrau ist eine Erfindung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Unser Projekt macht solche historischen Komplexit?ten und ihre Auswirkungen auf die Architektur sichtbar.
Welche Person ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Für meine eigene Forschung ist das neben Jane Webb Loudon auch Maria Graham, eine britische Autorin, die im frühen 19. Jahrhundert in Indien war und viel über indische Architektur und Kultur schrieb, natürlich mit grossen Vorurteilen. Sp?ter reiste sie nach Chile und beschrieb als eine der ersten den chilenischen Unabh?ngigkeitskrieg und die St?dte, die sich daraus entwickelt hatten. Graham versuchte, sich nicht auf ein Thema zu spezialisieren, damit sie als weibliche Autorin anerkannt wurde. In ihrem Tagebuch hielt sie unter anderem ihre Beobachtungen eines Erdbebens in Chile fest. Als sie aber bei der Royal Geological Society darüber vortragen wollte, kam es zu einem Eklat, weil sie sich als Frau in ein Fachgebiet einmischte. Spezialisierung war karrieref?rdernd für M?nner, aber für Frauen war sie gef?hrlich, auch in Bezug auf Architektur.
Sie haben fünf Jahre an dem Projekt geforscht. Welche neuen Erkenntnisse hat die Forschung für die Architekturgeschichte gebracht?
Ganz zentral ist die grosse Zahl der Autorinnen, die über Architektur und Landschaft geschrieben haben und deren Schriften wir als Historiker:innen ernst nehmen sollten. Unsere Forschung hilft, das Verst?ndnis von Architekturgeschichte neu zu kalibrieren: Wessen Geschichte schreiben wir? Und wie denken wir über Architektur? Unser Projekt zeigt, wie unterschiedlich die Raumerfahrungen für verschiedene Bev?lkerungsgruppen sind. Unsere Quellen machen deutlich, dass etwa die Unterscheidung zwischen ?ffentlich und privat, in der Architektur und im Entwurf oft zentral, enorm variiert. Damit hat unsere Arbeit nicht nur Einfluss auf das Verst?ndnis der Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart und Zukunft von Architekturpraxis und -kritik.
Women Writing Architecture 1700-1900
Die Gruppe ?Women Writing Architecture 1700-1900? hat in den letzten fünf Jahren untersucht, wie Frauen in Europa und Südamerika über Architektur schrieben. Das vom Europ?ischen Forschungsrat ERC finanzierte Projekte ist am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) der ETH Zürich angesiedelt.
Buch
Zum Forschungsprojekt ist ein Buch erschienen:
Ausstellung
Von M?rz bis Mai 2026 wird im gta Foyer auf dem 365体育官网_365体育备用【手机在线】 H?nggerberg der ETH Zürich eine Ausstellung zum Projekt stattfinden.