«Citizen Science ist exzellente Forschung»

Die Bürgerwissenschaft nimmt an Universit?t und ETH Zürich Fahrt auf. Mit einem Kompetenzzentrum und einer Partizipativen Wissenschaftsakademie werden Citizen Scientists in die Forschung involviert. Im Gespr?ch erl?utern Ko-Direktor Mike Martin, Ko-Initiantin Effy Vayena und Gesch?ftsführerin Rosy Mondardini das Vorhaben.

Vergr?sserte Ansicht: Mike Martin, Effy Vayena und Rosy Mondardini erläutern, wie eine Bürgerwissenschaft nach Zürcher Art funktioniert. (Bild: Frank Brüderli)
Mike Martin, Effy Vayena und Rosy Mondardini erl?utern, wie eine Bürgerwissenschaft nach Zürcher Art funktioniert. (Bild: Frank Brüderli)

Das Kompetenzzentrum Citizen Science war bisher hinter den Kulissen aktiv. Nun pr?sentieren Sie sich diesen Samstag am Citizen-Science-Festival (siehe Hinweis am Ende). Was sind die Ziele?
Mike Martin:
Wir betreiben unter einem gemeinsamen Dach der beiden Institutionen Bürgerwissenschaft, das heisst Citizen Science. Das Besondere am neuen Kompetenzzentrum sind die Exzellenz und die Partizipation: Einerseits orientieren wir uns bei den Projekten an den hohen Qualit?tsstandards, die in der Wissenschaft gelten, also an exzellenter Forschung. Andererseits geht die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger über ihre klassische Rolle als Datenlieferanten hinaus: Sie sollen auch in die Planung der Forschungsprojekte und Analyse der Resultate involviert werden. Deshalb schaffen wir innerhalb des Kompetenzzentrums auch eine sogenannte Partizipative Wissenschaftsakademie.

Rosy Mondardini: Die gleichberechtigte Teilnahme ist uns ein wichtiges Anliegen. Wir m?chten mit dem Kompetenzzentrum akademisch Forschende und Bürgerinnen und Bürger ermutigen, von Beginn an Projekte gemeinsam zu entwickeln. Wir wissen, dass die Partizipation die Wirkung der Projekte in jeder Beziehung verbessert. Um diese Mitwirkung zu gew?hrleisten, stellen wir die n?tigen Hilfsmittel und Ausbildungsm?glichkeiten zu Verfügung.

Effy Vayena: Mit den beiden Hochschulen unterstützen zwei renommierte Universit?ten Citizen Science, die das ganze akademische Spektrum von den Geistes- und Sozial- bis zu den Natur- und technischen Wissenschaften abdecken. Das ist neu – bisher sind Citizen-Science-Projekte meist aus Einzelinitiativen entstanden. Mit ihren grossen Netzwerken erweitern die Universit?t und die ETH die M?glichkeiten von Citizen Science betr?chtlich.

Wir m?chten Forschende, Bürgerinnen und Bürger ermutigen, von Beginn an Projekte gemeinsam zu entwickeln.  Rosy Mondardini, Gesch?ftsführerin Citizen Science Center Zurich
Rosy Mondardini. (Bild: Frank Brüderli)

K?nnen Sie ein Projekt erl?utern, mit dem Sie starten?
Mondardini:
Wir haben verschiedene Projekte in Vorbereitung. Erw?hnen m?chte ich ein linguistisches Projekt von Elvira Glaser, Professorin für Germanische Philologie. Es betrifft die berühmten 40 Wenker-S?tze, benannt nach Georg Wenker, einem Linguisten aus dem 19. Jahrhundert. Die 40 S?tze sind Grundlage des Deutschen Sprachatlas und dienten dazu, die Sprachgrenzen der Dialekte zu ermitteln, indem man sie in die ?rtlichen Dialekte übersetzte. Aber nicht alle dieser ?bersetzungen sind analysiert worden. Mithilfe von Citizen Scientists werden sie nun, über 100 Jahre sp?ter, transkribiert und analysiert. In einer zweiten Phase werden die Teilnehmenden gebeten, die S?tze in heutige Dialekte zu übertragen. Die Citizen Scientists werden also in diesem Projekt in die Forschung integriert.

Martin: Wir haben in den vergangenen Monaten die Qualit?tsstandards und Strukturen entwickelt, damit nun nach der Er?ffnung relativ schnell neue Projekte lanciert werden k?nnen. Unser Ziel ist es, pro Jahr 10 bis 20 neue Projekte in Angriff zu nehmen.

Mondardini: Wobei ich betonen m?chte, dass die Relevanz der Projekte im Zentrum steht und weniger ihre Zahl. Wir k?nnen nun die Methoden und Standards anbieten und die Forschenden unterstützen, damit sie auf einfache Art und Weise ihre Projekte entwickeln und beginnen k?nnen.

Vayena: Nebst den Citizen-Science-Projekten planen wir auch Projekte über Citizen Science selbst, zum Beispiel zu ethischen Fragen betreffend Datenaustausch und -freigabe: Welche Faktoren bestimmen, ob jemand seine pers?nlichen Daten zur Verfügung stellt? Wie sehen neue Konzepte der Datensicherheit aus? Solche Fragen zu neuen Formen der Forschung im Zeitalter von Big Data interessieren mich sehr. Ich denke, das ist für die Zukunft der Hochschulen wichtig. Die Digitalisierung und das Internet er?ffnen für die Bürgerwissenschaft ganz neue M?glichkeiten.

Martin: Ich würde sogar sagen, dass die Universit?ten geradezu eine Verpflichtung haben, die neuen M?glichkeiten der Digitalisierung hinsichtlich Citizen Science zu nutzen. In der Gesellschaft sind viel Expertise und Know-how vorhanden, die uns in der Wissenschaft weiterbringen.

Mondardini: Das betrifft zum Beispiel die Sustainable Development Goals (SDG) oder Nachhaltigkeitsziele, die für uns eine wichtige Rolle spielen. Ein Fokus des Kompetenzzentrums liegt auf Projekten zu den 17 Zielen, die 2015 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurden. Ziel Nummer 6 betrifft den Zugang zu sauberem Wasser, zu dem es an der UZH mit ?Crowdwater? bereits ein Citizen-Science-Projekt gibt. Citizen Science kann einen grossen Beitrag zur Realisierung dieser Ziele auf der lokalen Ebene leisten, und dieses Potenzial m?chten wir nutzen.

Effy Vayena. (Bild: Frank Brüderli)
Die Digitalisierung und das Internet er?ffnen für die Bürgerwissenschaft ganz neue M?glichkeiten.Effy Vayena, Professorin für Bioethik, ETH Zürich

Wie ist das Kompetenzzentrum aufgestellt?
Mondardini:
Das Kompetenzzentrum baut auf mehreren Pfeilern auf. Zun?chst gibt es ein physisches Zentrum am Hirschengraben, wo die Projekte geplant und evaluiert werden k?nnen. Dafür stellen wir auf unserer Plattform die notwendigen Tools zur Verfügung. Der zweite Pfeiler ist die von der Stiftung Mercator Schweiz wesentlich unterstützte Partizipative Wissenschaftsakademie, mit der wir eine Vorreiterrolle übernehmen. Im Rahmen von Weiterbildungskursen vermittelt die Akademie Citizens und Forschenden fachliche Kenntnisse und praktische Kompetenzen zur Erarbeitung partizipativer Forschungsvorhaben.

Mike Martin. (Bild: Frank Brüderli)
Die Universit?ten haben eine Verpflichtung, die neuen M?glichkeiten der Digitalisierung hinsichtlich Citizen Science zu nutzen. In der Gesellschaft sind viel Expertise und Know-how vorhanden, die uns in der Wissenschaft weiterbringen.Mike Martin, Professor für Gerontopsychologie, Universit?t Zürich

Wie reagiert die wissenschaftliche Community? Gibt es keine Bedenken, die Wissenschaft k?nnte ihr Ansehen verlieren, wenn sie sich mit Nichtakademikern einl?sst?
Vayena:
Nein, Citizen Science ist ein Ansatz, der die traditionelle Wissenschaft erg?nzt und nicht konkurrenziert. Es gibt Themen, in denen Citizen Science sinnvoll ist, und andere Bereiche, wo sie ungeeignet ist. Niemand nimmt jemandem etwas weg. Deshalb sehe ich nicht, wo Spannungen entstehen sollten.

Martin: Im Gegenteil, beide Seiten profitieren. Citizen Science erweitert die M?glichkeiten der konventionellen Wissenschaft. Gleichzeitig k?nnen die Bürgerinnen und Bürger an einem der wertvollsten Projekte der Gesellschaft teilhaben – an der Wissenschaft.  

Kompetenzzentrum und Akademie

Das Kompetenzzentrum Citizen Science (kurz: Citizen Science Center Zurich) wird von der Universit?t Zürich und der ETH Zürich gemeinsam geführt. Das Zentrum f?rdert, koordiniert und unterstützt Citizen-Science-Projekte an beiden Hochschulen und m?chte einen Beitrag zur Entwicklung von Citizen Science in der Schweiz und im Ausland leisten. Zu den Partnern z?hlt das Citizen Cyber Lab an der Universit?t Genf.

Das Kompetenzzentrum wird von einem vier?k?pfigen Direktorium mit den Professoren Avi Bernstein (UZH), Mike Martin (UZH), Michael Ristow (ETH) und Kevin Schawinski (ETH) geleitet, beratend zur Seite stehen Ernst Hafen (ETH), Dirk Helbing (ETH) und Effy Vayena (ETH). Die Gesch?ftsstelle am Hirschengraben 56 leitet Rosy Mondardini.

An der Finanzierung beteiligt sich die Stiftung Mercator Schweiz mit 2,58 Millionen Franken zum Aufbau der Partizipativen Wissenschaftsakademie, die Susanne T?nsmann leitet. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt die Partizipative Wissenschafts?akademie, um die Zusammenarbeit von Wissenschaft und breiter Bev?lkerung zu f?rdern und neue Formen der Mitwirkung zu erproben.
 

Citizen-Science-Festival

Im Rahmen des Festivals ?100 Ways of Thinking? der Universit?t Zürich findet am 15. September 2018 von 14 bis 19 Uhr in der Kunsthalle das externe Seite Citizen-Science-Festival statt. Die offizielle Er?ffnung des Kompetenz?zentrums und der Partizipativen Wissenschaftsakademie ist für November geplant.

Stefan St?cklin ist Redaktor der UZH News und des UZH Journals.

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert