«Bildungssysteme zu verändern, ist wie einen Friedhof zu verschieben»
Elsbeth Stern h?lt am 27. M?rz ihre Abschiedsvorlesung. Wir haben die Lehr- und Lernforscherin, die in der Schweiz die Diskussion um den ?bertritt aufs Gymnasium mitgepr?gt hat, noch einmal zu ihren Erkenntnissen befragt.
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Frau Stern, Sie haben sich jahrzehntelang mit Intelligenzforschung besch?ftigt. Gibt es eine Erkenntnis, die Sie selbst am meisten überrascht hat?
Als ich Mitte der 70er Jahre angefangen habe, Psychologie zu studieren, gab es zwar klare Hinweise auf genetische Grundlagen von Intelligenzunterschieden, aber wahrhaben wollte das damals kaum jemand. Erstaunt hat mich im Nachhinein die Vorhersagekraft von Intelligenztests. Lange Zeit hat man an die Schwellenwerthypothese geglaubt, die besagt, dass es ab einem gewissen IQ-Wert keine Unterschiede mehr macht, wie erfolgreich man in einem anspruchsvollen Gebiet ist. Mittlerweile gibt es sehr viele Ergebnisse, die zeigen, dass es sehr wohl einen Unterschied macht, ob man zum obersten Prozent oder Promille der Intelligenzverteilung geh?rt. Gewundert hat mich auch, wie stark die allgemeine Intelligenz ist. Im Alltag denkt man, es g?be sprachlich und mathematisch begabte Menschen, aber es scheint eher eine allgemeine Intelligenz zu geben, die man in unterschiedlichen Gebieten anwenden kann.
Hat sich Ihr Blick auf die Intelligenz ver?ndert?
Bei allen Intelligenzforschern ist die Tatsache st?rker ins Bewusstsein gerückt, dass viele Genvariationen, die zu Intelligenzunterschieden führen k?nnen, ihre Wirkung erst unter bestimmten Umweltbedingungen entfalten k?nnen. Für die Intelligenzentwicklung sind Bildungsangebote entscheidend, und je mehr wir diese optimieren, umso st?rker treten genetische Unterschiede hervor.
Gibt es Missverst?ndnisse, die Sie ?rgern?
Viele. Zum Beispiel, dass Gehirnjogging die Intelligenz verbessere oder man entweder logisch-mathematisch oder sprachlich begabt sei. Damit wird früh ein Selbstkonzept gepr?gt, welches nicht die tats?chliche Begabungsstruktur eines Kindes abbildet. Viele Lehrpersonen denken tats?chlich, dass ihre Noten die Intelligenz der Kinder abbilden, und hinterfragen die Lernwirksamkeit ihres Unterrichtes gar nicht.
Vor allem bei M?dchen gibt es ja das Vorurteil, dass sie eher sprachlich begabt seien …
Genau diese Fehlvorstellung führt dazu, dass immer noch weniger M?dchen und Frauen im MINT-Bereich zu finden sind. Ohne diese falschen ?berzeugungen k?nnten wir Talente noch st?rker f?rdern.
Zur Person
Elsbeth Stern hat Psychologie studiert und an Max-Planck-Instituten sowie deutschen Universit?ten gearbeitet, bevor sie im Herbst 2006 als ordentliche Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung an die ETH Zürich berufen wurde. Sie war verantwortlich für den p?dagogischen Teil der Ausbildung angehender Gymnasiallehrerinnen und -lehrer in den MINT-F?chern. In ihren wissenschaftlichen Arbeiten stehen der Erwerb, die Ver?nderung und die Nutzung von Wissen im Mittelpunkt. ?ber die Grenzen der Wissenschaft hinaus ist sie durch Interviews und Medienbeitr?ge zu aktuellen Themen der Bildung bekannt geworden.
Trotzdem sind nicht alle Kinder fürs Gymnasium geeignet. Sind es Ihrer Meinung nach zu viele, die auf eins gehen?
Im Gymnasium werden Kinder auf ein Universit?tsstudium vorbereitet. Sie sollen sich mit abstrakten Inhalten und komplexen Problemen besch?ftigen, wozu man eine hohe Intelligenz braucht. Leider kommen Kinder auf das Gymnasium, die aufgrund intensiver Unterstützung zwar die Mindestanforderungen erfüllen, aber sp?testens an der Universit?t Probleme haben, was auch für die Dozierenden frustrierend ist. Dass nur 20 Prozent aufs Gymnasium gehen, wobei alle anderen auch sehr gute Ausbildungsm?glichkeiten bekommen, ist eine St?rke der Schweiz. Die Frage ist aber, ob die richtigen 20 Prozent zum Zuge kommen. Intelligente Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozio?konomischen Status werden zugunsten von weniger intelligenten Kindern aus h?heren Schichten benachteiligt.
Wie k?nnte man das ver?ndern?
Idealerweise sollten Kinder gute und anspruchsvolle Lerngelegenheiten erhalten, bei denen sich zeigt, ob sie diese lernwirksam nutzen k?nnen. Dann würden sie selbst erkennen, ob sie die Voraussetzungen und die Bereitschaft mitbringen, sich in abstrakte und komplexe Gebiete einzuarbeiten. Mit 15 Jahren haben sich Intelligenzunterschiede weitgehend stabilisiert und gleichzeitig haben sich Interessen sowie eine realistische Selbsteinsch?tzung herausgebildet. Es w?re viel gewonnen, wenn wir bis zu diesem Alter mit dem ?bertritt ins Gymnasium warten würden, aber bereits in der Primarschule anspruchsvolle Lerngelegenheiten anbieten k?nnten.
Sehen Sie das Schweizer Schulsystem eher positiv oder negativ?
Es hat sehr viele positive Elemente, aber man sollte problematische Entwicklungen im Auge behalten. Auch wenn ich selbst davon profitiert habe, halte ich es für keine gute Entwicklung, dass immer weniger Schweizer:innen in Wissenschaft und Wirtschaft Führungspositionen einnehmen. Die Schweiz kann hochqualifizierte Arbeitskr?fte zwar problemlos importieren, aber so werden relativ viele Talente verschenkt, die eigentlich akademisches Potenzial mitbr?chten und lediglich aufgrund ihrer sozialen Herkunft keine Chance erhalten.
Wie beeinflussen neue Technologien wie KI und soziale Medien die Entwicklung von Kindern?
Das gr?sste Problem sehe ich im Verlust von Selbstbestimmung. Wenn man vor seinem Smartphone sitzt und einen Film schaut, kommen nach dessen Ende sofort neue Vorschl?ge. Hat man ein Buch zu Ende gelesen, muss man sich selbst überlegen, was man als n?chstes macht. Soziale Medien k?nnen passiv machen und man verliert seine eigenen Ziele aus den Augen. Natürlich k?nnen digitale Medien auch lernwirksam genutzt werden. Lehrpersonen k?nnen zum Beispiel adaptive ?bungen an solche Programme delegieren und mehr Zeit in die Betreuung stecken, um individuelle Rückmeldungen und Erkl?rungen zu geben.
Gibt es etwas, an dem Sie gerne noch weiter forschen würden?
Ich h?tte mir gerne noch angeschaut, was der Schuleintritt am Denken der Kinder ver?ndert. Ab da bekommen Kinder mentale Werkzeuge wie Schrift und Zahlsymbole an die Hand, mit denen sie abstrakte Ideen entwickeln k?nnen. Eine spannende Frage finde ich auch, was man überhaupt nachholen kann. Viele denken, dass Lernen vom biologischen Alter abh?ngt, aber es sind auch gesellschaftliche Vorgaben: Unsere Kinder lernen mit sechs Jahren Lesen und Schreiben. Von daher w?re es interessant zu sehen, wie sich jemand verh?lt, der oder die erst mit 25 eingeschult wird.
Wenn Sie eine Botschaft an die n?chste Generation von P?dagog:innen senden k?nnten – was w?re das?
Bitte schafft bessere Lerngelegenheiten. Nicht jeder kann alles lernen, aber man sollte dafür sorgen, dass alle ihr Potenzial entfalten k?nnen. Unterschiedliche Schüler:innen k?nnen Unterschiedliches aus den gleichen Angeboten lernen. Man kann auch ohne mehrgliedriges Schulsystem auskommen, wenn die Lerngelegenheiten gut sind und beispielsweise jahrgangsübergreifender Unterricht erm?glicht wird. Regelm?ssige aber anonym durchgeführte Tests sind wichtig, damit Lehrpersonen ihren Unterricht anpassen k?nnen, wenn sie noch Defizite oder Missverst?ndnisse entdecken. Dann konzentrieren sich auch die Schülerinnen auf die Inhalte und überlegen nicht, wie sie mit geringstem Aufwand die beste Note bekommen.
Sind Sie entt?uscht, dass sich das noch nicht ge?ndert hat?
Nein. Bildungssysteme zu ver?ndern, ist wie einen Friedhof zu verschieben. Wir sollten nicht auf eine Revolution hoffen. In einem komplexen System an einer Schraube zu drehen, macht alles noch schlimmer. Was hilft es, wenn wir hohe Anforderungen an den Unterricht formulieren, aber dann keine geeigneten Lehrpersonen finden. Ich glaube, im Unterricht selbst kann man am meisten bewirken, und ich habe die Hoffnung, dass Lehrpersonen, welche die Ausbildung an der ETH durchlaufen haben, es besser machen.
Was ist für Sie eine gute Lehrperson?
Eine, die weiss, wie Schüler:innen lernen und die ihr Fach durch die p?dagogische Brille sieht. Eine gute Lehrperson kann mit Intelligenzunterschieden umgehen und ist sich bewusst, dass ihr Fachwissen nicht einfach in die K?pfe der Lernenden übertragen wird, sondern dass die Lernenden dabei unterstützt werden müssen, ihr bestehendes Wissen zu erweitern und oftmals radikal umzustrukturieren.
Gibt es etwas, das Sie vermissen werden, wenn Sie nicht mehr an der ETH sind?
Im Moment geniesse ich es, mich auf wissenschaftliche Artikel zu konzentrieren. Die ETH sollte sich allerdings überlegen, wie das Potenzial von emeritierten Professor:innen genutzt werden kann, ohne dass sie jüngeren Wissenschaftler:innen im Wege stehen. Mir wird nicht langweilig und ich werde eine Mischung aus Postdoc und akademischer Oma werden. In zahlreichen Projekten gibt es noch Sch?tze, die ich gemeinsam mit Professor:innen, die aus meiner Gruppe hervorgegangen sind, heben m?chte.
Abschiedsvorlesung
Am Donnerstag, 27. M?rz um 17.15 Uhr h?lt Professorin Elsbeth Stern ihre Abschiedsvorlesung mit dem Titel Intelligenz: Wie, wann und wo zeigt sie sich? im Audi Max.
Die Veranstaltung wird live gestreamt unter: externe Seite http://bit.ly/audimax-stream.