«Eine Fokussierung auf Projekte mit hoher Wirksamkeit bringt der Schweiz am meisten»
Nach dem letztj?hrigen Nein zum Nationalstrassenausbau und finanziellen Schwierigkeiten beim Angebotskonzept Bahn 2035 steht die Schweizer Verkehrspolitik vor grossen Weichenstellungen. Im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt, Energie und Kommunikation (UVEK) hat die ETH Zürich rund 500 geplante Projekte für Strasse, Schiene und Agglomerationsverkehr nach wissenschaftlichen Kriterien priorisiert. Ulrich Weidmann, Professor für Verkehrssysteme, erl?utert die wichtigsten Erkenntnisse.?
In Kürze
Die ETH Zürich erhielt vom UVEK den Auftrag, die für die Jahre 2025 bis 2045 schweizweit geplanten Ausbauprojekte für Strasse, Schiene und Agglomerationsverkehr aus unabh?ngiger Sicht zu priorisieren.
Das nun ver?ffentlichte externe Seite Gutachten ?Verkehr 2045? kommt zum Schluss, dass das Schweizer Verkehrssystem in allen Regionen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zukunftsf?hig ausgebaut werden kann – sofern man auf einige Projekte verzichtet, andere redimensioniert, zeitlich nach hinten verschiebt und die Verkehrssysteme untereinander st?rker koordiniert.
Im Interview erkl?rt Ulrich Weidmann, Professor für Verkehrssysteme und Autor des Gutachtens, nach welchen Kriterien die Projekte priorisiert wurden, und was die Priorisierung für den kommenden politischen Entscheidungsfindungsprozess bedeutet.
Herr Weidmann, was genau war der Auftrag, den das UVEK im Januar der ETH Zürich erteilt hat?
Die ETH Zürich erhielt den Auftrag, die schweizweit geplanten Ausbauprojekte für Strasse, Schiene und Agglomerationsverkehr aus unabh?ngiger Sicht strategisch zu priorisieren und zwar unter Berücksichtigung eines vorgegebenen Finanzierungsrahmen für die Jahre 2025 bis 2045. Es ging dabei nicht darum, eigene Projektvorschl?ge zu formulieren oder die Qualit?t der einzelnen Projekte an sich zu beurteilen. Mein wissenschaftlicher Mitarbeiter Michael Nold und ich analysierten vielmehr die offiziell für diesen Zeitraum geplanten Projekte und verglichen diese untereinander nach deren Wirksamkeit.
Wie und nach welchen Kriterien haben sie die Projekte bewertet?
Das UVEK erwartete einen relativen Vergleich mittels einfacher, vorwiegend qualitativer und verkehrstr?gerübergreifender Kriterien. Wichtig war dem Bund zudem, dass wir die Wechselwirkungen zwischen den Projekten einbezogen und sinnvolle regionale Pakete bildeten. Also keine Simulationen und keine ausgefeilten Berechnungen.
Was waren das genau für Kriterien?
Für jedes Projekt haben wir semiquantitativ abgesch?tzt, welchen Nutzen es im Falle einer Realisierung bringen würde. Dazu geh?ren etwa Verbesserungen bei der Angebotsqualit?t – also Reisezeitverkürzungen oder Kapazit?tsausbauten –, Optimierungen beim Netzbetrieb wie mehr Sicherheit oder Redundanz im St?rungsfall sowie raumplanerische und ?kologische Aspekte wie die Erschliessung peripherer Regionen oder der Energieverbrauch. Der ermittelte Nutzen wurde jeweils den zu erwartenden Kosten gegenübergestellt, auch jenen des sp?teren Betriebs und der Nutzung.
Besonderes Gewicht hatten zudem die verkehrsmittelübergreifenden Effekte. In gewissen Regionen wie beispielsweise am Genfersee haben wir festgestellt, dass die Bahn den h?heren Aufholbedarf hat. Deshalb schlagen wir vor, dort vorerst auf den Ausbau der Bahn zu fokussieren und dafür den Ausbau der Autobahn aufzuschieben beziehungsweise vorderhand lediglich den Pannenstreifen umzunutzen.
?H?tten wir die gleiche Untersuchung vor 30 Jahren gemacht, h?tte man mit L?tschberg, Gotthard und Ceneri eine Konzentration im Alpenraum festgestellt.?Ulrich Weidmann
Sie haben die Projekte untereinander nach deren Gesamtnutzen für das Verkehrssystem analysiert. Bei einer solchen Sicht wundert es nicht, dass prim?r Projekte im Grossraum Zürich und in der Genferseeregion umgesetzt werden sollen. Fallen die l?ndlichen Regionen bei Ihnen durchs Raster?
Das ist nicht der Fall. Wir haben priorisiert, was in Planung ist, und das konzentriert sich derzeit auf die Grossr?ume Genfersee-Bogen, Nordwestschweiz und Zürich. Dafür gibt es verschiedene Gründe, vor allem das starke Wachstum dieser Regionen mit entsprechender ?berlastung aller Verkehrsmittel. H?tten wir die gleiche Untersuchung vor 30 Jahren gemacht, h?tte man mit L?tschberg, Gotthard und Ceneri eine Konzentration im Alpenraum festgestellt.
Das heisst also: Die Investitionsschwerpunkte widerspiegeln die strategischen Priorit?ten ihrer jeweiligen Zeit?
Genau. Die Verteilung der von uns priorisierten Investitionen weicht anteilsm?ssig übrigens gar nicht stark von jener der Gesamtheit aller Projekte ab – unsere Priorisierung hat also nicht zu einer Bevorzugung einzelner Regionen oder Verkehrsmittel geführt. Es ist auch wichtig zu betonen, dass wir nicht nur Projekte der h?chsten Priorit?tsstufe zur Umsetzung empfehlen. Es stehen Mittel für zahlreiche weitere Vorhaben im ganzen Land zur Verfügung. Dort schlagen wir zum Teil einfach eine Reduktion des Projektumfangs oder den Ersatz durch kostengünstigere Alternativen vor.
Reichen denn die vorgegebenen finanziellen Mittel überhaupt, um das Schweizer Verkehrssystem vernünftig auszubauen?
Für mich ist das die erfreuliche Erkenntnis unserer Analyse. Sie zeigt, dass wir mit einer Fokussierung auf Projekte mit hoher Wirksamkeit das Schweizer Verkehrssystem in allen Regionen zukunftsf?hig ausbauen k?nnen. Und das mit den für die Jahre 2025 bis 2045 zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln. Entscheidend ist, dass man auf einige Projekte verzichtet, andere redimensioniert oder zeitlich nach hinten schiebt sowie die Verkehrssysteme untereinander st?rker koordiniert. Die gr?ssten Herausforderungen sehe ich im ?brigen nicht nur in den Finanzen, sondern auch in der praktischen Umsetzbarkeit der Projekte im geplanten Zeitraum.
Inwiefern?
Selbst wenn die finanziellen Mittel gesprochen sind, braucht es erhebliche personelle Kapazit?ten, damit die Projekte tats?chlich erfolgreich umgesetzt werden k?nnen. Mit Blick auf die Pensionierungswelle vieler Fachkr?fte sehe ich hier eine grosse Herausforderung und eine zentrale Aufgabe für die ETH Zürich und andere Bildungsinstitutionen. Es muss dringend in Ausbildung und Nachwuchs investiert werden. Zudem sind im laufenden Betrieb auch nicht beliebig viele Eingriffe für Bauarbeiten m?glich.
Sie haben auch Projekte in die Priorisierung aufgenommen, welche vom Stimmvolk abgelehnt wurden. Spielte der Volkswillen in Ihrer Analyse keine Rolle?
Dies war vom UVEK so vorgegeben und ich denke, gerade im Hinblick auf die verkehrs- und regionenübergreifende Gesamtsicht ist es sinnvoll, den Quervergleich dieser Projekte mit den weiteren Planungen anzustellen. Zudem wurde seinerzeit ein Gesamtpaket von sechs Projekten abgelehnt, über die man sich nicht einzeln ?ussern konnte. Zeigt nun ein Projekt des abgelehnten Paketes eine vergleichsweise hohe Wirksamkeit, so ist eine nochmalige politische Diskussion in der Schweiz nicht unüblich. Im anderen Fall gibt es einen Grund mehr, es beim negativen Entscheid zu belassen. Unsere Aufgabe als unabh?ngige Experten war es ja nicht, diesen politischen Entscheidungsfindungsprozess vorwegzunehmen. Ob und wie solche Projekte wieder diskutiert werden sollen, muss die Politik entscheiden.
Wie unabh?ngig war Ihre Arbeit von den Beh?rden und Interessensverb?nden?
Unsere Auslegeordnung hatte explizit auf den inhaltlichen Vorarbeiten des UVEK aufzubauen. Wir haben aber nebst dem Auftrag keinerlei Instruktionen etwa bezüglich erwarteter Ergebnisse oder Pr?ferenzen erhalten und konnten v?llig unbeeinflusst agieren. Die Interessenverb?nde waren bei der Erarbeitung unserer Analyse im sogenannten Sounding Board vertreten. Sie wurden laufend über den Stand des Projektes und unsere Methodik informiert, auf die Inhalte hatten sie jedoch keinen Einfluss. Es gab auch von dieser Seite her keinerlei Beeinflussungsversuche. Die eigentliche Konsensbildung muss nun im politischen Prozess erfolgen.
?Unser Gutachten soll der Politik in erster Linie als Entscheidungshilfe dienen?Ulrich Weidmann
Wie geht es nun weiter?
Unser Gutachten soll der Politik in erster Linie als Entscheidungshilfe dienen, der Bund hat das weitere Vorgehen definiert. Weitere Kriterien – etwa f?deralistische – werden nun in die Diskussion einfliessen. Ich bin überzeugt: Wenn wir uns auf strukturell wirksame Projekte konzentrieren und diese gezielt mit kleineren Massnahmen erg?nzen, lassen sich erhebliche Verbesserungen erzielen – und wir er?ffnen uns dazu neue Spielr?ume für die kommenden Jahrzehnte.
In den letzten knapp neun Monaten haben Sie rund 500 hochkomplexe Projekte mit einem Gesamtvolumen von rund 113 Milliarden Franken analysiert. Wie war das zeitlich mit ihrer Funktion als Vizepr?sident für Infrastruktur vereinbar?
Natürlich bedeutete das für mich pers?nlich eine grosse Zusatzbelastung und vor allem auch mein Mitarbeiter Michael Nold hat sich extrem engagiert. Gleichzeitig erachtete ich den Auftrag als bedeutsam, für die Schweiz und die ETH Zürich. Ich denke, mit unserer Expertise für solch aktuelle und gesellschaftlich relevanten Herausforderungen k?nnen wir als Forschende dem Land etwas zurückgeben. Dank einer starken Priorisierung innerhalb meiner Funktion, der Unterstützung der gesamten Schulleitung und vor allem dank meinem eingespielten Team im Vizepr?sidium für Infrastruktur konnten wir die Aufgabe gemeinsam bew?ltigen.
Zur Person
Nach seinem Bauingenieur-Studium an der ETH Zürich doktorierte Ulrich A. Weidmann am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT). Anschliessend war er von 1994 bis 2004 bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) zun?chst für die netzweiten Angebote des S-Bahn- und Regionalverkehrs verantwortlich, sp?ter als Gesch?ftsbereichsleiter Engineering der Infrastruktur unter anderem für Bahntechnik, Architektur, Diagnosetechnik und Innovationsmanagement.
2004 kehrte Ulrich Weidmann als ordentlicher Professor für Verkehrssysteme an die ETH Zürich zurück. Sein Forschungsinteresse galt dem Entwurf ?ffentlicher Personenverkehrssysteme, der Integration der Güterbahn in die Logistik, der Leistungsf?higkeit und Automation von Bahnsystemen sowie dem Fahrbahnbau. Seit Januar 2016 ist er als Vizepr?sident für Infrastruktur und Nachhaltigkeit Mitglied der Schulleitung der ETH Zürich und in dieser Funktion verantwortlich für Beschaffung, Erneuerung und Instandhaltung bedarfsgerechter Infrastrukturen, sowie die Bereitstellung einer breiten Palette von Dienstleistungen für Lehre, Forschung, Transfer, Outreach und Administration.