«Wir müssen die Infrastruktur klüger nutzen, statt sie immer auszubauen»

Wie gehen Raumplaner:innen mit KI, Regulierungen, Biodiversit?t und Wohnungsnot um? Im Interview legen die Leiter der berufsbegleitenden ETH-Weiterbildung MAS in Raumentwicklung dar, warum gute Planung bei den Menschen beginnt.?

Andreas Rupf (links) und Joris van Wezemael (rechts)
Andreas Rupf (links) und Joris van Wezemael haben das MAS ETH-Programm für Raumentwicklung aufgebaut. Die Stadt Kloten im Hintergrund setzt auf eine Stadtentwicklung, die die Bedürfnisse der Bev?lkerung in einer Mitwirkung berücksichtigt.  (Bild: ETH Zürich / Alessandro Della Bella)

Warum ist der Mensch das Mass guter Raumplanung?
Andreas Rupf: Raumplanung ist ein gesellschaftlicher Prozess und damit auch politisch. Sie betrifft uns alle. Wie wir unseren Lebens- und Wirtschaftsraum gestalten, pr?gt unseren Alltag und bestimmt, wo wir arbeiten und produzieren, einkaufen oder Sport treiben. Gute Raumentwicklung beginnt damit, was für die Menschen wichtig ist und tr?gt dazu bei, die Ressourcen und Qualit?ten eines Landes fair zu verteilen.

Joris Van Wezemael: Eine Perspektive, die von den Menschen ausgeht, anerkennt, dass die Bev?lkerung gegenüber dem Umbau von St?dten und gegenüber ?Expertenwissen? zunehmend skeptisch ist, und dass es in der Stadtentwicklung entsprechend oft an Akzeptanz fehlt. Gleichzeitig bietet eine Perspektive, die sich konsequent an den Interessen der Menschen orientiert, die Chance, den Handlungsspielraum der Raumentwicklung wieder zu ?ffnen.   

Wie unterscheidet sich interessenorientierte Planung von klassischer Raumplanung?
Van Wezemael: Traditionell wurde Raumplanung als ein Verwalten des Raums durch vorausschauende Koordination raumwirksamer T?tigkeiten verstanden. In Zukunft wird Raumentwicklung eine gestalterische und kooperative Aufgabe, die die Interessen aller Nutzer:innen des Raums berücksichtigen muss. 

Weshalb?
Rupf: Raumplanung hat mit den Ansprüchen von sehr diversen Nutzergruppen zu tun. Sie betrifft Bewohner:innen ebenso wie Gewerbe, Industrie, Dienstleister, Tourismus und viele andere.

Van Wezemael: Eine hohe Raumqualit?t aus Sicht der Nutzenden entsteht nur, wenn die Planer:innen verstehen, wie und weshalb die Menschen in ihrem Alltag ?Geografie machen?, das heisst beispielsweise, wie sie ihre Bedürfnisse erfüllen k?nnen, indem sie weniger Ressourcen verbrauchen. 

Was sind die Gründe dieses Wandels?
Van Wezemael: Die moderne Raumplanung entstand im 20. Jahrhundert als Reaktion auf das unkontrollierte St?dtewachstum der Industrialisierung. Als technisches Steuerungsinstrument verstanden, setzte sie auf Instrumente wie Zonenpl?ne, Bauordnungen und rechtliche Vorgaben. Nicht zuletzt aus Gründen der ?ffentlichen Gesundheit fokussierte sie auf die Trennung von Industrie- und Wohngebieten und auf den Ausbau der Infrastruktur für Verkehr, Wasser und Strom. Im Zuge der Globalisierung am Ende des 20. Jahrhunderts wurden zentral gelegene Industriestandorte für die Siedlungsentwicklung frei und ein verhandlungsbasierter und projektorientierter Ansatz erg?nzte die bestehende Raumplanung. Heute arbeiten wir an einer dritten Generation der Raumplanung.

Zu den Personen

Der Raum- und Stadtplaner Andreas Rupf leitet die Plattform ?ETH Raum? und den MAS ETH in Raumentwicklung.

Joris Van Wezemael ist Initiant von ?ETH Raum?, Wirtschaftsgeograf, Strategieberater und Mediator sowie Inhaber des Büros ?de plek – Mediation and Urban Transformation?. 

Weshalb an einer dritten Generation?
Van Wezemael: Weil uns die ?kologischen ?planetaren Grenzen? zum Umbau bereits bestehender und aktiv genutzter Siedlungsfl?chen zwingen – und weil dieser Umbau die klassischen Kooperationsans?tze überfordert und die einst etablierte, institutionalisierte Interessenvertretung in einer Legitimationskrise steckt. Ausserdem f?rdern soziale Medien eine Betroffenheits- und Wut-Kultur. Wir Raumplaner:innen müssen lernen, damit umzugehen. 

Was sind beispielhafte Herausforderungen dieser neuen Raumplanungs-Generation?
Van Wezemael: Viele r?umliche und verkehrliche Probleme lassen sich dank KI und Datenanalyse heute neu denken. Zum Beispiel akzeptieren auch in der Schweiz viele Arbeitnehmende – aufgrund der Lockdown-Erfahrungen in der Covid-Krise – Homeoffice sowie digitale, mobile und flexible Arbeitsformen. Das gibt uns zum ersten Mal seit 200 Jahren die M?glichkeit, die r?umliche Trennung von Wohnen und Arbeit, die eine Zwangsmobilit?t und hohe Verkehrsaufkommen zur Folge hatte, wieder zu reduzieren. Coworking R?ume, Sharing-L?sungen in der Mobilit?t sowie lernende Verkehrsmanagementsysteme erm?glichen zusammen neue L?sungen gegen die Engp?sse im Pendlerverkehr.

Rupf: Seit den 1990er-Jahren vollzieht sich an der ETH Zürich in Wissenschaft und Weiterbildung ein Wandel von der Raumplanung zur Raumentwicklung. Letztere verfolgt einen strategischeren Ansatz, der nicht nur fragt, wo und was gebaut wird, sondern wie sich Lebensr?ume nachhaltig und im Zusammenspiel mehrerer Beteiligter entwickeln. Heute gehen wir in der berufsbegleitenden Weiterbildung (MAS) in Raumentwicklung an der ETH einen Schritt weiter, indem wir Planungsaufgaben von den Nutzer:innen her denken und die Umwelt einbeziehen.

Was heisst das?
Rupf: Es geht darum, Mitwirkende einzubeziehen, Verst?ndigung zu erm?glichen und Verhandlungen zu gestalten, um tragf?hige, krisenfeste und regenerative R?ume zu entwickeln, die auch Krisen, Naturereignissen und sozio?konomischen Ver?nderungen standhalten – und zugleich Lebensqualit?t bieten. Es braucht überzeugende Visionen und Zielbilder der r?umlichen Entwicklung. Das vermitteln wir in der Weiterbildung. 

Wie sehen die neuen Zielbilder aus?
Van Wezemael: Die Entwicklung von Agglomerationen ist heute die vorrangige Aufgabe der Siedlungsentwicklung. Sie wird jedoch noch stark von den Ortskernen her betrachtet. Das ist eine defizit-orientierte Perspektive, die wir überwinden wollen. Wir erkennen neue L?sungen, indem wir die Perspektive ?ndern: Die Agglomerationsw?lder sind nicht einfach der Rand des Siedlungsrands. Wenn wir den Raum ?lesen?, sollten wir im Gegenteil von den Freir?umen und den naturr?umlichen Ressourcen ausgehen. Im Zürcher Glatttal etwa ist es der Hardwald, der sieben Gemeinden miteinander vereint. Er schafft eine gemeinsame Identit?t und eine einmalige Lebensqualit?t. Ein gutes Zielbild der Siedlungsentwicklung w?re hier also ein ?Central-Park fürs Glatttal?.

Ein Aussichtsturm umgeben von Wald
Der Aussichtsturm im Hardwald ist ein beliebtes Ausflugsziel. Künftig k?nnte er der Mittelpunkt einer Raumentwicklung im Glatttal sein, die von den Grünr?umen her entworfen wird. (Bild: Keystone / Gaetan Bally)

In den Schweizer St?dten besteht derzeit ein Mangel an Wohnraum. Wie kann Raumplanung hier zur L?sung beitragen?
Rupf: Grunds?tzlich besteht ausreichend Potenzial, um Wohnraum zu schaffen und Innenentwicklung an geeigneten Standorten voranzutreiben. Dafür sind jedoch  bestehende Wohn- und Nutzungsformen zu hinterfragen, um Ressourcen einzusparen und nicht nur baulich zu verdichten. Einfach weiterbauen wie bis anhin, ist zu vermeiden. Heute wird leider zu oft nur mit Ersatzneubauten verdichtet. Damit einher gehen Verdr?ngung und h?here Mieten, ohne ?kologische und sozialvertr?gliche Innenverdichtung. Wichtig sind deshalb Anreize und Vereinfachungen, um vermehrt mit dem Bestand zu arbeiten, statt überwiegend Ersatzneubauten zu realisieren. 

In der CAS-Weiterbildung in Raumentwicklung an der ETH bezeichnen Sie die Stadt als ?Laboratorium? zukünftiger Raumentwicklung. Was leisten solche Experimentierr?ume?
Rupf: Experimentelle Vorgehensweisen dienen dazu, neue Ans?tze systematisch zu prüfen – oder sie begründet zu verwerfen, wenn die Ergebnisse nicht überzeugen. In solchen R?umen werden gezielt bestimmte Regeln gelockert oder ausgesetzt: Was passiert, wenn Vorgaben für Mindest- und H?chstdichten wegfallen? 

?Regeln schaffen Orientierung und Gleichbehandlung – sie garantieren jedoch nicht automatisch ortsspezifische Qualit?t und Identit?t.?
Andreas Rupf

Sind diese Laboratorien Praxistests für Deregulierungen?
Van Wezemael: Nein. Auch in der Raumentwicklung folgt ein Experiment klaren Regeln und kontrollierten Bedingungen, um kausale Wirkungen nachzuweisen. Solche systematischen Wirkungsstudien fehlen in der Raumplanung oft. Dabei liesse sich in ausgew?hlten Arealen gezielt testen, wie die ?ffnung von Gewerbezonen preisgünstigen Wohnraum erm?glichen kann. 

Rupf: Wenn für die Raumentwicklung eine gemeinsame Vision besteht, sind weniger Regeln notwendig. Fehlt diese Einigkeit, steigt der Regulierungsbedarf. Regeln schaffen Orientierung und sorgen für Gleichbehandlung – sie garantieren jedoch nicht automatisch ortsspezifische Qualit?ten wie zum Beispiel, dass ein Ort seine eigene Identit?t oder Atmosph?re entwickelt. 

Wie k?nnen Sie solche Qualit?ten experimentell testen?
Rupf: Auf einem Areal k?nnten wir unterschiedliche Varianten – etwa Geb?udeh?hen – testen, ohne sie im Voraus festlegen zu müssen. KI-gestützte Planungstools werden uns vermehrt dabei unterstützen, um die Komplexit?t datenbasiert zu vereinfachen. Damit jedoch die Menschen die von der KI erzeugten Vorschl?ge und Entwürfe garantiert akzeptieren, ist es wichtig, dass Planende diese Prozesse weiterhin überprüfen, nachvollziehen und gestalten.

Als Sie vor drei Jahren Raumplaner:innen aus der Praxis befragten, zeigte sich ein enormer Wissensbedarf bei Klimawandel und Biodiversit?t. 
Rupf: Klimaangepasste und biodiversit?tssensible Raumentwicklung sind dringliche Handlungsfelder. Das sehen wir auch in der Weiterbildung. Besonders die Biodiversit?t hat in der Raum- und Stadtentwicklung nicht den Stellenwert, die sie verdient. Die fortschreitende Bodenversiegelung und die intensive Bodennutzung haben das Artensterben an einen kritischen Punkt gebracht. Einzelmassnahmen stoppen es heute nicht mehr – und ist die Biodiversit?t einmal verloren, l?sst sie sich nicht einfach wiederherstellen. Deshalb brauchen wir heute resiliente und revitalisierende Planungen.

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?Gute Planung, genauso wie guter St?dtebau, arbeitet mit dem, was ?da? ist.?
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Joris van Wezemael

Welche Haltung zur Nachhaltigkeit sollte die Raumplanung einnehmen?
Rupf: Wir müssen heute im Bestand weiterentwickeln. Dafür gibt es noch kein allgemeingültiges Rezept, damit dies erfolgreich gelingt. Gesucht sind individuelle L?sungen und neue Herangehensweisen, sonst werden wir weiter zersiedeln und Ressourcen übernutzen.

Van Wezemael: Gute Planung, genauso wie guter St?dtebau, arbeitet mit dem, was ?da? ist. Beim Stadtklima setzen wir daher auf ?nature-based solutions?. Im Hoch- und Tiefbau gilt es, die Infrastruktur deutlich vielseitiger als heute zu nutzen.

Was heisst das konkret?
Van Wezemael: Zum Beispiel: Wie nutzen wir die Kinos am Morgen, wie die Schulen oder Autobahnen in der Nacht? Und grunds?tzlich: Dass wir – durch intelligentes Raum-Zeit-Management – lernen müssen, mit der bestehenden Infrastruktur gut zu leben. Dass die Raumentwicklung sich intensiv mit raumrelevanten M?rkten besch?ftigen sollte – etwa mit den Fehlanreizen im Mietwohnungsmarkt. Und dass die Entwicklung des Bestandes im Hochbau so erleichtert wird, dass sie gegenüber Neubauten attraktiver wird. 

Welche Alternativen sehen Sie in der Logistik? 
Van Wezemael: Die Schweiz ist technisch und verkehrlich gut erschlossen. Wir müssen die bestehenden Infrastrukturen klüger nutzen, statt sie immer auszubauen oder gar das Land zu untertunneln. Zum Beispiel k?nnten nachts digital gekoppelte Kolonnen von Elektro-Lastwagen auf der linken Autobahnspur fahren, ohne den Individualverkehr zu st?ren. Dafür braucht es weder neue Strassen noch neue Schienen und auch kein Cargo Sous Terrain, sondern dynamischere Regelungen und intelligente, datenbasierte Managementsysteme.

MAS ETH in Raumentwicklung – Bewerbung

ETH Raum ist die Plattform der ETH Zürich für die Raumentwicklung. Sie f?rdert den Austausch zwischen Raumwissenschaften und Praxis. Zudem bieten Sie Weiterbildungsprogramme wie den MAS und CAS in Raumentwicklung sowie den Kompaktkurs ?KI für Stadt und Raum? an. Aktuell l?uft die Ausschreibung für:

  • CAS Raumentwicklung und Prozessdesign: Bewerbungsfenster bis 15. Dezember 2025, Informationsveranstaltung am 18. November 2025.

  • Webinar: AI in spatial and transport planning. 20. November 2025, 12 – 13 Uhr.

Weitere Informationen unter ETH Raum

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