Auf Augenhöhe mit dem CTO
Studierende der ETH Zürich arbeiten mit Ingenieurinnen und Ingenieuren von Industrieunternehmen zusammen, um Innovationen zu beschleunigen. Eine besondere Form von Lehre und Industriekooperation, die alle begeistert.
- Vorlesen
- Anzahl der Kommentare

Jannis Reichenstein studierte im dritten Jahr Maschineningenieurswissenschaften, als er auf der Suche nach einem Thema für seine Bachelorarbeit auf die Ausschreibung des ETH Feasibility Lab stiess: Bei einem Industrieunternehmen mit ?Rapid Prototyping? Probleme aus der realen Welt angehen und am Ende eine Abschlussarbeit in der Hand halten. ?Das klang nach Schwindel?, erinnert er sich an seine erste Reaktion, als er das Angebot des Feasibility Lab von ETH-Professor Mirko Meboldt entdeckte.
Meboldt befasst sich in seiner Professur für Produktentwicklung und Konstruktion mit der Frage, wie sich Entwicklungs- und Innovationsprozesse beschleunigen und dabei die Risiken minimieren lassen. Mit dem Feasibility Lab unterstützt er Firmen dabei, ihre Innovationsideen zu testen. In diesem Reallabor entwickeln Studierende und ihre Betreuenden gemeinsam mit den Auftraggebern m?glichst einfache Prototypen, um Produkte und Funktionen von Industrieprozessen verbessern zu k?nnen. Beim Bau dieser ?Critical Function Prototypes? lassen sie alles weg, was für die ?berprüfung einer bestimmten Hypothese beziehungsweise Innovationsidee nicht notwendig ist. Meboldt spricht von ?Lean De-Risking?.
?Globe? Erfolgreich in die Zukunft

Dieser Text ist in der Ausgabe 25/02 des ETH-????Magazins Globe erschienen.
Schritt für Schritt
Im vorletzten Herbstsemester ging das Lab mit der Bühler Group eine Kooperation ein, in der Studierende beim Industriekonzern vor Ort ?Lean De-Risking? im internen Innovationsprozess testeten. So entstand das Bühler Exploration Lab, kurz BEXL. Reichenstein war einer der acht Studierenden, die unter Anleitung von drei erfahrenen Postdocs ein halbes Jahr Innovationsideen aus den 24 Gesch?ftseinheiten von Bühler testete. Dabei sind über sechzig Projekte zusammengekommen, einfachere und komplexere.
Eines dieser Projekte war, ein Ger?t zu entwickeln, mit dem Müllereibetriebe die Qualit?t von Hafer bei der Lieferung schnell feststellen k?nnen – als Basis für eine faire Preisverhandlung sowie für optimale Mühleeinstellungen von Beginn an. Für die Studierenden stellte sich zun?chst die Frage, was so ein Testger?t überhaupt messen müsste. Neben dem Verh?ltnis von Korn und Spreu entscheidet beim Hafer die Sch?lbarkeit der K?rner über die Qualit?t, denn sie bestimmt die Effizienz im Verarbeitungsprozess. Es ging also darum, die wesentlichen Funktionen, die den Verarbeitungsprozess auf den grossen Maschinen bestimmen, auf ein kleines Testger?t zu übertragen. Dabei gingen sie schrittweise vor.

Für den ersten Prototyp wendeten die Studierenden gerade mal achtzehn Arbeitsstunden auf, und sie arbeiteten mit Karton. Der zweite Prototyp war nach vierzig Arbeitsstunden fertig, und erst dann nahmen sie den dritten in Angriff, in den sie rund 400 Arbeitsstunden investierten. ?Ich bin tief beeindruckt, wie rasch die Studierenden mit den Prototypen grundlegende Fragen beantworten k?nnen?, lobte der CTO von Bühler, Ian Roberts, deren Arbeit. ?Mit unseren etablierten Entwicklungsmethoden h?tte ein Projekt wie der Hafersch?ler bestimmt zwei Jahre statt zwei Monate gedauert, und es h?tte ein Vielfaches an finanziellen Mitteln verschlungen?, erkl?rt er.
Noch war der Hafersch?ler ein Prototyp, als die Kollaboration zwischen der ETH und Bühler endete. Für Reichenstein eine unbefriedigende Situation: ?Ich h?tte es schade gefunden, wenn der Sch?ler und all die anderen coolen Projekte in einer Schublade verschwunden w?ren?, sagt er. So entschied er sich für ein Industriepraktikum bei Bühler und entwickelte zusammen mit seinem BEXL-Kollegen Diego Verzaroli unter anderem die Hafersch?lmaschine so weit, dass sie von Kunden getestet werden konnte. ?Es war eine grossartige Erfahrung, Kunden irgendwo in der Pampa diese Maschine pr?sentieren zu dürfen und von ihnen ein direktes Feedback zu erhalten?, schw?rmt Reichenstein. Inzwischen arbeitet er neben seinem Masterstudium, das er diesen Februar aufgenommen hat, als Junior Product Manager in einem 20-Prozent-Pensum bei Bühler.
T?glich neue Challenges
Arne von Hopffgarten war einer der Masterstudenten, die im BEXL ihre Abschlussarbeit machten. Auch ihn liess die Erfahrung nicht los: ?Ich wollte tiefer in die Projekte reinschauen und die Methodik, wie man Projekte angeht, besser verstehen.? Er stieg ins Coaching-Team ein, das den zweiten Jahrgang des Exploration Lab (EXL) plante. Das B für Bühler fiel weg, weil sich drei weitere Firmen beteiligten: die Haushaltger?tefirma V-ZUG, das Verbindungs- und Montagetechnikunternehmen Bossard sowie die VAT-Gruppe, die Hochleistungsvakuumventile herstellt.
W?hrend des letzten Herbstsemesters betreute von Hopffgarten zusammen mit vier Kollegen vierzehn Studierende und aus den vier Firmen über 200 Mitarbeitende, die sich in den Unternehmen mit Innovationen besch?ftigen. Diese Stakeholder haben 178 Ideen an die Studierenden herangetragen, aus denen 87 Projekte hervorgingen. An der Abschlusspr?sentation Ende M?rz dieses Jahres im ETH-Hangar in Dübendorf pr?sentierten die Studierenden ihre Arbeiten – zumindest jene, die nicht der Geheimhaltung unterliegen.
Alina Arranhado, die ihren Masterabschluss in Maschinenbau macht, pr?sentierte eine Idee, um die Lagerbewirtschaftung von Montageteilen zu verbessern. ?Bisher sind die Beh?lter, aus denen Mitarbeitende kleine Teile entnehmen, auf Waagen fixiert?, schildert Arranhado die Ausgangssituation. Dies sei aber eine recht teure Methode, um festzustellen, wann der Vorrat zur Neige gehe. In Zukunft soll mittels Lichtsensoren festgestellt werden k?nnen, wann es Zeit ist, Schrauben nachzufüllen.
Arranhado pr?sentiert an einem Stand im Hangar die vier Prototypen, die sie gebaut hat. ?Im Laufe des Projekts habe ich herausgefunden, dass ein einfacher Aufbau mit wenigen Sensoren reicht und wir vieles auf der Softwareseite machen k?nnen?, erz?hlt Arranhado. ?Wir konnten sogar ohne LED-Lampe und nur mit Tageslicht arbeiten.? Letztlich entstand eine L?sung, die mit fünf bis zehn Sensoren auskommt – und damit rund zehnmal billiger ist als die bestehende mit den Waagen.

Für Arranhado war das EXL eine einmalige Erfahrung und genau das Richtige für ihre Masterarbeit: ?Ich brauche Abwechslung, und es gab Wochen, in denen wir jeden Tag eine ganz neue Challenge bearbeitet haben.? Sechs Monate in ein einziges Thema abtauchen, das h?tte ihr weniger entsprochen. Positiv überrascht hat Arranhado die Zusammenarbeit im Team, nicht nur mit den Studierenden und den Coaches, sondern auch mit den Stakeholdern aus den Firmen. ?Es gab keine Kommunikationsbarrieren, alle waren per Du und trauten sich, offen miteinander zu sprechen.?
Dranbleiben, darauf kommt es an. ?Innovation ist wie ein Marathon?, sagt Thomas Christen, Head of Corporate R&D bei VAT. Er habe die Studierenden sehr unterschiedlich erlebt, es habe sich recht schnell herauskristallisiert, wer Biss hat. ?Die anderen Studierenden wurden von den Coaches angetrieben, aber auch von Leuten aus meinem Team?, sagt er. Der Einsatz habe sich gelohnt: ?Wir konnten gewisse Dinge bereits in der Produktion implementieren, und eine Produktinnovation hat sogar das Potenzial, ein Gamechanger zu sein?, sagt er.
Weitere Firmen gewinnen
Die Firma VAT will sich auch in einem Jahr wieder am EXL beteiligen, auch wenn die Kosten für die Teilnahme erheblich seien, wie Thomas Christen betont. ?Doch es ist nicht nur eine finanzielle Investition, bei der wir sagen, eines von zehn Projekten konnte realisiert werden?, so Christen. Vielmehr gehe es um den Mindset. ?Entsprechend war die Zusammenarbeit für mich unbezahlbar.?
Auch die anderen Firmen waren von der Zusammenarbeit mit den Studierenden so angetan, dass sie wieder mitmachen wollen, weiss Kai von Petersdorff-Campen, der Leiter des ETH Feasibility Lab und Verantwortlicher für das Projekt. ?Dass in diesem Semester vier Projekte entstanden sind, über die nicht kommuniziert werden darf, spricht für die Qualit?t der Arbeiten?, sagt er.
Für kommendes Jahr haben weitere Firmen ihr Interesse angemeldet, so etwa Givaudan, die Herstellerin von Aromen und Duftstoffen. ?Dank der M?glichkeiten, die der ETH-Hangar in Dübendorf bietet, k?nnen sich auch Unternehmen beteiligen, die über kein internes Innovationslabor verfügen?, betont von Petersdorff-Campen.
Grunds?tzlich w?ren auch kleinere Firmen willkommen, doch der Koordinationsaufwand dafür übersteige zurzeit die vorhandenen Ressourcen. ?Ich würde mich freuen, wenn es uns in den kommenden Monaten gelingen würde, hier eine L?sung zu finden?, sagt er.
ETH-Hangar
Der ETH-Hangar ist eine Plattform für die Zusammenarbeit zwischen Industrie und Wissenschaft im ?Innovation Park Zurich? in Dübendorf. ?Das Exploration Lab EXL zeigt exemplarisch, wohin sich die Plattform entwickeln wird?, sagt Jeannine Pilloud, die an der ETH Zürich für Industrie?kooperationen verantwortlich ist und damit auch für den Betrieb im Hangar. Im EXL arbeiteten die Studierenden teils bei den Firmen vor Ort, teils aber auch in Dübendorf, wo ihnen ein zeitgem?sser Makerspace zur Verfügung stand. Künftig soll die Plattform auch gr?ssere Kooperationen zwischen ETH-Forschungsgruppen und Industriebetrieben beheimaten.
