Eine begehbare Installation
Von Dürer über Rembrandt bis zu Warhol – die Graphische Sammlung der ETH Zürich umfasst rund 160'000 Werke. Für die Ausstellung NEOGEO hat sie zusammen mit drei zeitgen?ssischen Künstlerinnen ein Experiment gewagt.

?Hast du den Alarm deaktiviert?? – ?Ja, ist aus!? Die Vitrinen an der Wand sind gesichert, Kevin Cilurzo und Livio Baumgartner müssen sie erst entsperren, um sie ?ffnen zu k?nnen. Im fensterlosen, langen Korridor sind nur wenige Menschen unterwegs. ?Wo ist hier der Eingang zur Ausstellung??, fragt eine ?ltere Dame beim Vorbeigehen. ?Sie ist leider geschlossen, wegen Umbaus?, antwortet Cilurzo freundlich.
Zusammen mit seinem Kollegen Baumgartner steckt er mitten in den Vorbereitungen für die n?chste Ausstellung. In zwei Wochen findet die Er?ffnung statt und es gibt noch einiges zu tun: Heute sollen die Glasvitrinen mit Exponaten bestückt werden, verschiedene Werke liegen schon bereit.
?Globe? Erfolgreich in die Zukunft

Dieser Text ist in der Ausgabe 25/02 des ETH-????Magazins Globe erschienen.
Cilurzo ist Papierrestaurator bei der Graphischen Sammlung ETH Zürich. Er ?ffnet die mittlerweile entsicherte Wandvitrine. Einmal mehr zeigt sich, dass es sich bei diesem Projekt nicht um eine gew?hnliche Ausstellung handelt und vieles neu gedacht werden muss. Das erste Werk, das aufgeh?ngt werden soll, ist vierteilig. Die Künstlerin Claudia Comte sieht dafür verschiedene Anordnungen vor.
Die Werke für die Vitrine sind alle nicht gerahmt. Es sind lose grafische Bl?tter auf unterschiedlichen Papierarten. Doch wie k?nnen sie aufgeh?ngt werden, ohne Schaden zu nehmen? Genau dafür haben Kevin Cilurzo und Museumstechniker Livio Baumgartner ein Magnetsystem optimiert. Baumgartner, der neben seiner Arbeit bei der Graphischen Sammlung noch als Fotokünstler t?tig ist, liegen solche technischen Aufgaben: ?Die Mischung aus künstlerischer T?tigkeit und Handwerk gef?llt mir.?

Eine jüngere Sicht
In der Zwischenzeit ist Alexandra Barcal dazugestossen. ?Wollen wir nochmals zusammen die Reihenfolge durchgehen??, fragt die Kuratorin ihre Kollegen und breitet einen Ausdruck des Vitrinenkonzepts aus, der als Vorlage für das Aufh?ngen der Papierarbeiten dient. Teamarbeit ist ihr sehr wichtig. Nicht nur mit Künstlerinnen und Künstlern, sondern auch intern. Und Teamwork ist auch für die aktuelle Ausstellung gefragt – eine Art Experiment, wie Barcal sagt. Denn die Ausstellung NEOGEO, die sich der Kunststr?mung der sogenannten ?Neuen Geometrie? widmet, ist so ganz anders als die meisten Ausstellungen, die die Graphische Sammlung bisher realisiert hat.
Barcal, Kunsthistorikerin und Konservatorin des 20. und 21. Jahrhunderts, hatte sich zum Ziel gesetzt, zusammen mit drei aktiven Künstlerinnen eine weibliche, jüngere Sicht auf diese Kunstrichtung zu zeigen. Das Entwickeln von Ideen, die Absprachen, die Konzeption und das Umsetzen mit vielen beteiligten Personen sei auf jeden Fall eine Herausforderung.
Hinzu kommt, dass die Künstlerinnen eigens für die Ausstellung neue Werke erschaffen haben. Diese werden im Ausstellungsraum zu sehen sein, der sich hinter einer hohen, zweiflügeligen Tür gleich neben den Wandvitrinen verbirgt. Die ge?ffneten Flügel geben den Blick auf einen hellen Raum mit Parkettboden, Kassettendecke und schlanken, gusseisernen S?ulen frei. Die historischen R?umlichkeiten stehen im Kontrast zu den zeitgen?ssischen Werken, die hier schon fast fertig installiert sind.
Innerhalb der weitl?ufigen Installation f?llt noch etwas auf: Ein grasgrüner Kasten, beschriftet mit ?Monster?. ?Das ist unser fahrbarer Werkzeugkasten?, lacht Baumgartner. ?Er hat seinen Namen wegen seines Gewichts von rund 200 Kilogramm erhalten.? Baumgartners wachsamer Blick sieht sofort, dass auf einem der grossen gerahmten Bilder noch Fingerabdrücke zu sehen sind. Schnell nimmt er ein Tuch zur Hand und reibt die Spuren vorsichtig ab. ?Das Museumsglas ist schwierig zu putzen. Es hat eine spezielle Beschichtung, filtert UV-Strahlen und l?sst so weniger sch?dliches Licht an die Werke. Zudem ist es reflexionsarm, damit es beim Betrachten der Bilder nicht zu sehr spiegelt.?
Neue Pr?sentationsformen
Die Exponate der drei Schweizer Künstlerinnen Claudia Comte, Athene Galiciadis und Andrea Heller werden nicht wie üblich auf Stellw?nden pr?sentiert, sondern bilden zusammen eine begehbare Installation im Raum. Die raumhohen Holzschnitte von Comte betonen die Vertikale, die ebenfalls ungeschützt im Saal h?ngenden Bl?tter von Galiciadis die Horizontale, die grossen gerahmten Zeichnungen von Heller wiederum schaffen eine Verbindung zum Boden und zum Raum. ?Für NEOGEO haben wir den Ausstellungsraum v?llig ver?ndert?, sagt Kuratorin Barcal. ?Zu Beginn unserer Vorbereitungsarbeiten wusste ich noch nicht, was am Ende in diesem Ausstellungsraum zu sehen sein wird. Das war ein langer Schaffensprozess.?
Drei Wechselausstellungen realisiert die Graphische Sammlung pro Jahr. In den meisten F?llen greift sie dabei auf ihren Bestand von rund 160'000 hochkar?tigen Werken auf Papier zurück, die bis ins 15. Jahrhundert reichen. Die meisten Werke sind katalogisiert, so kann die Kuratorin beim Planen einer neuen Ausstellung in der Datenbank gezielt nach Kunstschaffenden und Werken suchen. Bei der Auswahl sei es wichtig, sich die Kunstwerke auch im Original anzuschauen, betont Barcal, denn nur so k?nne man beurteilen, welche Wirkung sie sp?ter in der Ausstellung h?tten.





Fragile Werke auf Papier
Das Realisieren einer Ausstellung und den Unterhalt der Sammlung unter einen Hut zu bringen, sei immer ein Balanceakt, meint Barcal, die neben ihrer Aufgabe als Kuratorin auch die Leiterin der Graphischen Sammlung, Linda Sch?dler, vertritt. Denn das Aufbewahren, Umlagern, Restaurieren, Inventarisieren und Katalogisieren einer so umfangreichen Sammlung nimmt viel Zeit in Anspruch. So arbeitet nicht nur Cilurzo an der Optimierung der physischen Lagerung, sondern auch seine Kollegin, Papierrestauratorin Olivia Raymann.
Dass sich die Sammlung seit ihrer Gründung im Jahr 1867 im historischen Hauptgeb?ude der ETH Zürich befindet, bringt zus?tzliche Herausforderungen mit sich: Es gibt zwar Klimaanlagen im Hauptgeb?ude, aber ein Grossteil der Graphischen Sammlung ist nicht damit ausgerüstet, weshalb es nicht einfach ist, Temperatur und Luftfeuchtigkeit konstant zu halten. Immerhin haben die dicken Mauern im Sommer auch einen kühlenden Effekt.
Ein konsequentes Monitoring, zum Beispiel mittels Fallen, soll verhindern, dass sich Sch?dlinge wie das Papierfischchen in der Sammlung ausbreiten. Dieses mit dem Silberfischchen verwandte Insekt liebt trockene Umgebung, meidet Licht – und ern?hrt sich von Papier. Zum Schutz der Sammlung geh?rt es darum auch, dass Werke aus Schenkungen von Museen oder Privatpersonen erst einmal in Quarant?ne müssen.
Cilurzo, der gerade mittels Linienlaser ein weiteres Werk millimetergenau in der Vitrine platziert, tr?gt in seiner Funktion als Papierrestaurator auch dazu bei, dass die Kunstwerke der Sammlung optimal aufbewahrt werden k?nnen. So werden zum Beispiel s?urehaltige Tr?gerkartons, die die Graphiken sch?digen k?nnen, durch alterungsbest?ndige Kartons ersetzt. Aktuell ist Cilurzo dabei, dreissig Werke für eine Leihgabe an das Helen Dahm Museum in Oetwil am See vorzubereiten – die H?lfte davon ist ungerahmt. Diese losen Bl?tter gilt es nun, auf s?urefreiem Papier zu fixieren, sodass sie vor sch?dlichen Unterlagen oder unsachgem?sser Handhabung geschützt sind.
Das geschieht im sogenannten Atelier der Graphischen Sammlung. Der Raum im Untergeschoss gleicht eher einer Werkstatt: Neben aufgelegten Grafiken gibt es allerlei Pinsel, Pinzetten, Becher und Fl?schchen. Beim Spülbecken warten Schwingbesen und Kochl?ffel auf ihren Einsatz. ?Wir stellen hier unseren eigenen Weizenst?rkekleister her, den wir für die Montage der Grafiken ben?tigen?, erkl?rt Cilurzo, der neben seiner Anstellung bei der Graphischen Sammlung auch noch als selbstst?ndiger Papierrestaurator t?tig ist.
Die Grafik wird mithilfe zweier kleiner, gefalteter Streifen aus Japanpapier auf dem Tr?gerpapier montiert – der selbstgekochte Kleister dient als Kleber. Diese Fixierung muss reversibel sein und darf das Papier weder angreifen noch Rückst?nde darauf hinterlassen. Bei der Montage müsse man langfristig denken, wird die Kuratorin sp?ter dazu sagen, im besten Fall bleibe so ein Werk ja über Jahrhunderte fixiert.
Der Kunst begegnen
Zwei Wochen sp?ter: Die Ausstellung NEOGEO wird er?ffnet. Rund 240 Besucherinnen und Besucher sind gekommen. Auch die drei Künstlerinnen sind bei der Vernissage dabei. Eine positive Anspannung und die Vorfreude aller Beteiligten sind spürbar. Die Exponate in den Vitrinen und die Ausstellung wecken Interesse, die G?ste erkunden die Installation, betrachten die Werke von allen Seiten und tauschen sich angeregt aus. Das Verst?ndnis für Kunst auf Papier zu f?rdern und den Kontakt zur ?ffentlichkeit zu pflegen, ist ein grosses Anliegen der Graphischen Sammlung. Dass sie an sieben Tagen die Woche kostenlos zug?nglich ist, unterstützt dieses Anliegen.
Auch nach der Vernissage werden noch viele weitere Veranstaltungen folgen, darunter zahlreiche Führungen, Besuche von Schulklassen oder Privatführungen zu ausgew?hlten Themen. Und auch die n?chste Ausstellung ist bereits in Planung, dieses Mal zu einem berühmten Künstler der klassischen Moderne – Pablo Picasso. ?Bei uns wechseln Ausstellungen zu Kunst aus vergangenen Epochen mit solchen zu Kunst aus der Gegenwart ab?, sagt Barcal. ?Im Austausch mit den Kunstschaffenden etwas Neues ausprobieren zu k?nnen, ist aber immer besonders toll!?