Hör genau hin. Wie Studierende lernen, mit Wissenschaftsskepsis umzugehen
Wissenschaft geniesst nicht mehr uneingeschr?nktes Vertrauen: Einige Gruppen stellen ihr Wissen infrage. Was heisst das für Studierende und Forschende? Gabriel Dorthe untersucht, wie Vertrauen und Misstrauen im Wechselspiel von wissenschaftlichem und forschungsskeptischem Denken entstehen.
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In Kürze
- Der Philosoph und Umwelthumanwissenschaftler Gabriel Dorthe forscht über Gruppierungen, die wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnen, umdeuten oder für eigene politische Aktionen beanspruchen.
- Er betrachtet wissenschaftliches und verschw?rungstheoretisches Denken als zwei unterschiedliche Weisen, wie Menschen Fakten, Werte, Politik, ?ngste und Hoffnungen zu einer Sicht auf die Welt verknüpfen.
- Er untersucht, wie wissenschaftskritische ?usserungen aktuelle technologische und politische Ver?nderungen reflektieren. Sein Wissen über Vertrauen vermittelt er Studierenden.
Im H?rsaal wird angeregt diskutiert. ETH-Studierende aus verschiedenen F?chern besprechen eine dr?ngende Frage: Wie sollen Wissenschaftler:innen mit Gruppierungen umgehen, die wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnen, umdeuten oder für eigene politische Aktionen beanspruchen.
Die Studierenden besuchen das Seminar ?Wissenschaft, Vertrauen und Politik?. Dieses ist Teil des ETH-Studienprogramms ?Science in Perspective?. Diese Initiative vermittelt und reflektiert gesellschaftliche Perspektiven auf Naturwissenschaften und Technologie. Studierende werden damit bef?higt, das Wissen der Forschung auch ausserhalb der Hochschule zu vertreten – und sich wirksamer in gesellschaftliche Debatten einzubringen.
Die Botschaft der ?Versuchskaninchen?
Szenenwechsel: In den Vereinigten Staaten versammeln sich Demonstrierende zum Protestmarsch. Schulter an Schulter halten sie Plakate hoch: ?Nein zur Gentechnik?, ?Kein Geoengineering hier?, ?Wir sind keine Versuchskaninchen?, ist darauf zu lesen. Die Slogans drücken eine tiefe Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Themen aus, die sie als bedrohlich empfinden: Solar-Geoengineering und Covid-19-Impfungen.
Solar-Geoengineering bezeichnet technologische Ans?tze, die die Sonneneinstrahlung auf der Erde verringern sollen, um die globale Erw?rmung zu bremsen. Weil die Auswirkungen schwer abzusch?tzen sind, sind diese Verfahren wissenschaftlich und gesellschaftlich umstritten.
Einige wissenschaftsskeptische Gruppierungen bringen Solar-Geoengineering mit sogenannten Chemtrails in Verbindung. Ihrer ?berzeugung nach enthalten die Kondensstreifen von Flugzeugen (engl. contrails) chemische oder biologische Substanzen, die absichtlich versprüht würden, um das Wetter zu manipulieren oder gar die Bev?lkerung zu reduzieren. Da Chemtrails mit den Erkenntnissen der Atmosph?renforschung unvereinbar sind, gelten sie gemeinhin als eine Form der Verschw?rungstheorie.
Auch Wissenschaftler:innen und Politiker:innen greifen das Thema auf – vor allem, um verbreitete Fehlinformation zu korrigieren und das Vertrauen in die wissenschaftliche Erkenntnis zu st?rken. Einen anderen Weg geht Gabriel Dorthe – als Forscher und als Dozent.
Zuh?ren – mit dem Feingefühl des Ethnologen
Dorthe dreht die Blickrichtung von den Forschenden zu jenen, die einen anderen Standpunkt einnehmen. In seiner Forschung geht er wie ein Ethnologe vor, der sich das Denken und Handeln einer fremden Kultur durch Fragen, Zuh?ren, Beobachten und Teilnehmen erschliesst. Wenn Dorthe sich mit Befürworter:innen der Chemtrails-Theorie oder Kritiker:innen der Corona-Massnahmen auseinandersetzt, besucht er deren Versammlungen, liest ihre Blogs und Social Media-Eintr?ge und führt mit ihnen Interviews. Sein Ziel: die Perspektiven nachvollziehen, aus denen sich ihre Skepsis speist.
Gabriel Dorthe hat Philosophie und Umwelthumanwissenschaften in Lausanne und Paris studiert. Danach hat er in Harvard, am Potsdamer Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit und an der ETH-Professur für Ethik, Technologie und Gesellschaft über Gruppen geforscht, die im Ruf stehen, zum schwindenden Vertrauen in die Wissenschaften beizutragen.
Den Wurzeln des Misstrauens auf der Spur
In einer Studie, die soeben in Communications Earth & Environment (Nature-Portfolio) erschienen ist, hat sich Dorthe eingehend mit wissenschaftskritischen Gruppierungen auseinandergesetzt. In den USA, Deutschland, der Schweiz und Frankreich forschte er über Covid-19-Impfkritiker:innen und Chemtrails-Befürworter:innen.
Dabei betrachtet er wissenschaftliches und verschw?rungstheoretisches Denken als zwei unterschiedliche Weisen, wie Menschen Fakten, Werte, Politik, ?ngste und Hoffnungen zu einer bestimmten Sichtweise auf die Welt verknüpfen. In seiner Betrachtung ist keine dieser Sichtweisen von vorneherein der anderen über- oder unterlegen.
Methodisch kann er so nachvollziehen, wie Vertrauen oder Misstrauen durch die gegenseitige Bezugnahme aufeinander wachsen oder schwinden – und zugleich wirft er ein Schlaglicht auf die gegenseitigen Spannungen zwischen Wissenschaftspolitik und verschw?rungstheoretischem Denken.
Vom Standpunkt der wissenschaftlichen Aufkl?rung aus betrachtet, erscheinen Verschw?rungstheorien gerne als irrational oder blosse Fehlinformation, die sich mit faktenbasierter Wissenschaftskommunikation korrigieren l?sst. Dorthe hingegen liest sie anders: Die Verbindung von Klimatechnologien, Wettermanipulation und Kontrolle über Menschen – wie sie die Plakate andeuten – mag zun?chst überraschen und weit hergeholt erscheinen. Schliesslich haben Geoengineering und Covid-19-Impfungen wissenschaftlich nichts miteinander zu tun.
Für Dorthe geben just solche unterwarteten Verbindungen jedoch Aufschluss darüber, wie wissenschaftskritische Gruppen aktuelle und für sie dringliche Themen – Gesundheit, Sicherheit, Geopolitik, Forschung und ?kologie – zu einem Gesamtbild verknüpfen, das ihre Sicht auf technologische und politische Entwicklungen spiegelt. Ein derartiges Verst?ndnis kann sich als Schlüssel erweisen zu einer wirksameren Wissenschaftskommunikation.
Ein weiterreichendes Unbehagen

?Die Erfahrungen zu kennen, die in Verschw?rungstheorien zum Ausdruck kommen, kann unser Verst?ndnis dafür vertiefen, wieso ?ffentliche Kontroversen um neue Technologien oft so hitzig geführt werden.?Gabriel Dorthe![]()
?So provokativ es klingen mag – aber die Erfahrungen zu kennen, die in Verschw?rungstheorien zum Ausdruck kommen, kann unser Verst?ndnis dafür vertiefen, wieso ?ffentliche Kontroversen um neue Technologien oft so hitzig geführt werden?, sagt Gabriel Dorthe. ?Ein Grund dafür ist, dass diese Technologien unser Leben grundlegend ver?ndern k?nnen.?
Mit seinem Ansatz l?sst sich herausarbeiten, welche Zweifel tats?chlich die Wissenschaften betreffen – und welche auf andere Ursachen zurückgehen: Oft richtet sich Misstrauen nicht allein gegen die Wissenschaften. Wissenschaftskritische Gruppen sehen die Wissenschaften mitunter mit Politik und Wirtschaft als Teil eines Systems, das in ihren Augen nicht ihre Interessen vertritt.
Wissenschaftsskeptische Gruppen erachten Corona-Massnahmen ebenso wie klima- und geotechnologische Eingriffe als Bedrohung für ihre k?rperliche Selbstbestimmung und die individuelle Freiheit. Ihr Unbehagen n?hrt sich nicht nur aus Zweifeln an den Wissenschaften, sondern verweist auf weiterreichende Bedenken gegenüber politischen Machtstrukturen, Formen der Fremdbestimmung und dem Verlust pers?nlicher Handlungsspielr?ume.
Gr?ben überbrücken – das Beispiel der Hom?opathie
Zurück im H?rsaal. Dort teilt Dorthe sein Wissen über wissenschaftskritische Gemeinschaften mit den Studierenden: ?Einer der zentralen Gedanken, den ich den Studierenden vermitteln m?chte, lautet: Vertrauen funktioniert nicht in nur eine Richtung.? Die Studierenden ermutigt er, sich auf Perspektiven einzulassen, die von den eigenen abweichen: ?H?rt genau hin. Seid aufmerksam. Weitet euren Blick. Seid pr?sent. Holt die Menschen dort ab, wo sie stehen. Stellt jenen, die euch widersprechen, dieselben Fragen wie denen, die euch zustimmen. Urteilt nicht vorschnell und bleibt flexibel in euren Interpretationen, bis ihr wirklich versteht, welche Einstellung jemand zu einem Thema hat.?
Eine Semesterarbeit über Hom?opathie sagt ihm besonders zu. Sie zeigt beispielhaft, was sein Ansatz bewirken kann: Die Studentin, die sie schrieb, ist überzeugte Naturwissenschaftlerin. Sie stritt jahrelang mit ihrer Mutter über die Wirksamkeit der Hom?opathie. Dorthe schlug ihr vor, statt darüber zu streiten, was wahr sei oder falsch, sie etwa zu fragen, was sie an der Hom?opathie überzeugt und wie sie deren Wirkung beurteilt.
Dieser Perspektivenwechsel führte zu einer überraschenden Einsicht. Für ihre Mutter war Hom?opathie nicht einfach eine Glaubenssache – sie war Praxis, Gemeinschaft und eine Form des Wissens über K?rper und Gesundheit. Die ver?nderte Herangehensweise verwandelte ihr Verh?ltnis: Nach Jahren angespannter Diskussionen darüber, welche Medizin die richtige sei – Biomedizin oder Hom?opathie – begannen Mutter und Tochter zu verstehen, was der jeweils anderen wirklich wichtig war. Am Ende ging es nicht mehr darum, wer recht hatte. Damit wuchs auch das gegenseitige Interesse.
Für Dorthe zeigt die Arbeit der Studentin beispielhaft, wie durch überlegte Fragen überzeugende Argumente für die Wissenschaftskommunikation entstehen k?nnen. Aus seiner Erfahrung mit Dialogformaten zwischen Wissenschaft und Gesellschaft – etwa bei der Waadtl?nder Gruppe für Philosophie oder beim Frankophonen Festival für Philosophie – schl?gt er Forschenden vor, Formate zu entwickeln, die einen Austausch mit Gruppen erm?glichen, die gegens?tzliche Ansichten vertreten, und dass sie auch von ihnen lernen, und nicht ausschliesslich versuchen, sie zu überzeugen.
Literaturhinweis
Dorthe G. Conspiracy theories as engines of connection for enriched public debates on emerging technologies. In: Communications Earth & Environment, 6, 655 (2025), 13 August 2025. DOI: externe Seite 10.1038/s43247-025-02581-x.