«Wir müssen Ansätze und Lösungen entwickeln, die Investitionen in Resilienz ermöglichen»

Nach zehn Jahren geht das Future Resilient Systems Programm am Singapore ETH Centre (SEC) zu Ende. Programmdirektor Jonas J?rin spricht im Interview über die Erfolge des Programms und wie es nun mit der Resilienz-Forschung weitergeht.

Jonas Jörin steht in einem Raum.
?Wir wollen wir mit unserer Forschung erm?glichen, gewisse Gefahren frühzeitiger zu erkennen und pr?ventiv Massnahmen einzuleiten?, sagt Jonas Joerin. (Bild: zVg / ETH Zürich)

In Kürze

  • Das Future Resilient Systems (FRS) Programm in Singapur erforschte zehn Jahre lang, wie Systeme resilient gegenüber St?rungen gestaltet werden k?nnen – mit Fokus auf urbane Infrastruktur, soziale Systeme und Sicherheit.
  • Resilienz wurde mathematisch modelliert, um sie messbar zu machen; Projekte wie die Mobile Sensing Platform, die Microclimate Digital Platform oder Studien zur sozialen Resilienz wurden sowohl in Singapur als auch in der Schweiz angewendet.
  • Auch wenn das Programm endet, bleibt Resilienzforschung essenziell – künftig sollen standardisierte Messmethoden Investitionen erm?glichen, um Gesellschaften gegen zunehmende Krisen widerstandsf?higer zu machen.

Jonas J?rin, das FRS-Programm in Singapur hat sich zehn Jahre mit Resilienz befasst. Was genau bedeutet Resilienz?
Ganz allgemein ist Resilienz die F?higkeit eines Systems, mit einer St?rung umzugehen. Beispielsweise, indem es trotz der St?rung im Gleichgewicht bleibt oder sich m?glichst vollst?ndig erholt. Das System kann eine einzelne Person, eine Bev?lkerungsgruppe, eine Organisation oder ein Netzwerk sein. Entsprechend spielt Resilienz in unterschiedlichen Forschungsgebieten eine Rolle. In Singapur gab es Schnittstellen zur St?dteforschung, zum Verkehrssystem, aber auch zu den Sozialwissenschaften.

Was war ursprünglich die Idee bei der Lancierung des Programms?
Mit Resilienz besch?ftigen wir uns an der ETH vor allem im Zusammenhang mit der Risikoforschung. Die Idee war, Resilienz als Konzept zu verfolgen und in verschiedenen Forschungsgebieten zu etablieren. Singapur hatte ein grosses Interesse am Thema, weil es zwar als kleiner Staat bezüglich Handelsbeziehungen sehr offen ist, aber bei der Sicherheit einen autarken Ansatz verfolgt. Deshalb beschlossen die ETH gemeinsam mit Beh?rden und Ministerien des Staatsstaats, ein Programm aufzubauen, das Singapur dabei unterstützen sollte, die sicherheitsrelevanten Bereiche zu st?rken.

Was muss man sich unter einem Resilienzkonzept vorstellen?
Beim Resilienzkonzept haben wir für die unterschiedlichen Dimensionen der Resilienz eine mathematische Formalisierung vorgenommen, also die Robustheit, die Redundanz, aber auch die Wiederherstellungsf?higkeit eines Systems. Das war eine Voraussetzung, um Resilienz quantifizieren zu k?nnen.

Wie hat sich das Programm über die Jahre entwickelt?
In den ersten fünf Jahren stand die Grundlagenforschung im Zentrum. In dieser Zeit haben wir uns mit einzelnen Systemen befasst. Thematisch standen sicherheitspolitische Aspekte im Vordergrund. In der zweiten Phase haben wir einbezogen wie sich Systeme gegenseitig beeinflussen. Zudem ging es vermehrt darum, die Erkenntnisse bei konkreten Projekten anzuwenden.

Mit welchen Partnern haben Sie diese Projekte realisiert?
Wir haben haupts?chlich mit staatlichen Stellen zusammengearbeitet, hatten aber auch ein Projekt mit der Changi Airport Group, die den Singapurer Flughafen betreibt. Es ging darum abzusch?tzen, wie anf?llig der Skytrain für St?rungen ist. Das ist der Zug, der die verschiedenen Terminals mit der Stadt verbindet. Mit dem Ministry of Culture, Community and Youth analysierten wir Social-Media-Daten für eine Stimmungsanalyse, und das Centre for Liveable Cities interessierte sich für soziale Resilienz.

Gibt es auch Projekte, deren Erkenntnisse sich auf die Schweiz anwenden lassen?
Selbstverst?ndlich. Die meisten Projektleitenden forschen auch in Zürich. So wurde etwa die Microclimate Digital Platform sowohl für Singapur wie auch für Zürich entwickelt. Dieses digitale Modell zur Visualisierung des Mikroklimas in St?dten soll St?dteplanerinnen und -planer unterstützen und kann für weitere Orte adaptiert werden. Ein weiteres Beispiel ist die Mobile Sensing Platform, mit der sich die Verkehrsinfrastruktur widerstandsf?higer gestalten l?sst. Dafür haben wir Feldversuche in Singapur und in der Schweiz durchgeführt. Die Plattform wird nun in der Schweiz weiterentwickelt. Schliesslich haben wir in den Studien zu sozialer Resilienz die Schweiz mit Singapur verglichen.

Worum ging es bei den Studien über die soziale Resilienz?
Das Coronavirus pr?gte den Start in die zweite Phase unseres Programms, die im Jahr 2020 startete. Wir gingen w?hrend der Pandemie unter anderem der Frage nach, ob politische Systeme die soziale Resilienz beeinflussen. Konkret haben wir untersucht, ob die gr?sseren Freiheiten, welche die Bev?lkerung in der Schweiz hatte, sich positiv auf die sozialen Strukturen auswirkte. Einen solchen Zusammenhang konnten wir aber nicht feststellen. W?hrend man sich in der Schweiz physisch treffen konnte, hat man in Singapur Kontakte nur online gepflegt. Wir kamen zum Schluss, dass soziale Strukturen recht stabil sind und relativ unabh?ngig von politischen Systemen oder Eingriffen funktionieren. Daraus k?nnen wir folgern, dass soziale Resilienz robust und gleichzeitig eher tr?ge ist.

Das Programm in Singapur wird eingestellt, obwohl das Thema Resilienz immer noch aktuell ist. Weshalb geht es nicht weiter?
Das war von Anfang an so geplant. Die National Research Foundation finanziert Programme für eine Phase von fünf Jahren und verl?ngert diese um eine weitere Phase, wenn die Resultate stimmen. Danach ist normalerweise Schluss. Doch das Ende des Programms bedeutet nicht das Ende der Resilienzforschung. Wir führten im April ein Symposium durch, an dem wir über unsere Forschungsresultate informierten. Daran nahmen auch Vertreterinnen und Vertreter von Singapurer Universit?ten teil. Sie werden sich weiter mit Resilienzforschung besch?ftigen und unsere Arbeit weiterführen.

?Wir haben mit unserem Programm nicht nur die Resilienzforschung in Singapur und der ETH vorw?rtsgebracht. Vielmehr hat die ganze Forschungscommunity davon profitiert.?
Jonas J?rin

Inwieweit hat das Programm in Singapur die Resilienzforschung an der ETH gepr?gt?
Wir haben mit unserem Programm nicht nur die Resilienzforschung in Singapur und der ETH vorw?rtsgebracht. Vielmehr hat die ganze Forschungscommunity davon profitiert. So haben wir unter anderem die International Conference on Resilient Systems ins Leben gerufen, an der sich j?hrlich Forschende aus der ganzen Welt über Resilienzfragen austauschen. Im kommenden Jahr wird sie in Delft stattfinden.

Wohin wird sich die Resilienzforschung entwickeln?
Das Resilienzkonzept ist in den verschiedenen Forschungsgebieten etabliert. Nun geht es um die ?bertragung von der Forschung in die Praxis. Wir sind weltweit mit immer mehr St?rungen konfrontiert: Kriege und ihre Folgen, Disruptionen im Welthandel durch Z?lle, Unwetter oder Waldbr?nde. Wir werden uns künftig viel st?rker mit Polykrisen besch?ftigen müssen. Dies bedeutet, dass wir Abl?ufe im Alltag, aber auch Prozesse in Organisationen so entwickeln, dass sie permanent bekannte und unbekannte St?rungen aushalten.

Was braucht es dafür?
Das Ziel für die n?chsten zehn Jahren ist, Resilienz messbar zu machen und zu standardisieren. Damit kann man L?sungen entwickeln, die Investitionen in Resilienz erm?glichen. Zurzeit sind Investitionsentscheide von einzelnen Personen oder Organisationen abh?ngig. Es gilt, das Thema auf unterschiedlichsten Ebenen zu etablieren: in Staaten, Gemeinden, Unternehmen, Vereinen bis zu den Haushalten. Denn Resilienz betrifft uns alle.

Wenn Sie von Investitionen sprechen: In welchem Verh?ltnis steht Resilienz zu Versicherungsl?sungen?
Die Versicherungsbranche quantifiziert Risiken und bringt Produkte auf den Markt, mit denen sich Organisationen oder Firmen absichern k?nnen. Resilienz ist eine Erg?nzung zum Versicherungssystem. Wir wissen, dass weltweit momentan nur etwa 40 Prozent der Infrastruktur, die sich theoretisch versichern liesse, tats?chlich versichert ist. Im Schadenfall ist dann die ?ffentliche Hand gefragt. Sie hat die Aufgabe, die Bewohnerinnen und Bewohner zu schützen. Also hat die ?ffentliche Hand ein Interesse, dafür zu sorgen, dass Naturereignisse wie Bergrutsche oder Waldbr?nde m?glichst wenig Zerst?rung anrichten k?nnen.

Und wie wollen Sie die Leute dazu bringen, in Resilienz zu investieren?
Beispielsweise indem wir zeigen, was sich mit Resilienz gewinnen l?sst. Wir k?nnen die Schadensumme berechnen für den Fall, dass eine bestimmte St?rung eintrifft und die Kosten für Massnahmen, die verhindern, dass diese St?rung eintrifft. Die Differenz ist dann der Resilienzgewinn. Generell wollen wir mit unserer Forschung erm?glichen, gewisse Gefahren frühzeitiger zu erkennen und pr?ventiv Massnahmen einzuleiten, um Sch?den und damit Kosten zu verhindern. Das ist der Weg, den wir gehen müssen.

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