Wissen wächst im Austausch
Im Reallabor Jurapark Aargau testen Forschende gemeinsam mit der lokalen Bev?lkerung Ideen zur nachhaltigen Entwicklung. Dabei fliesst das Wissen in beide Richtungen.
2. Dezember 2024, 18.30 Uhr
Es war schon dunkel und es regnete stark, doch er musste wissen, ob sie funktioniert. So stieg Leander Dalbert in sein Auto und fuhr zum Hof Altenberg in W?lflinswil. Schwere Tropfen sammelten sich an der Krempe seines Hutes, als der Landwirt den Kuhstall umrundete. Mit jedem Schritt wurde seine Neugier gr?sser und seine Stiefel schwerer. Hier, unterhalb der Rinderweide, hat er sie in die Landschaft gezogen – eine dreissig Zentimeter tiefe Rille, die das Regenwasser von der Kiesstrasse wegführen und auf der Weide verteilen soll. Die sogenannte Keyline folgt der H?henlinie mit eins bis zwei Prozent Gef?lle und soll verhindern, dass der Regen die Zufahrtsstrasse wegerodiert.
Tats?chlich hielt die Rille das Wasser zurück. Merklich verlangsamt folgte es dem Verlauf der Keyline und sammelte sich in den noch leeren Pflanzl?chern für die Birnb?ume. Denn Dalberts Keyline mindert nicht nur die Folgen von Starkregen und Trockenheit, sondern ist auch ein durchdachtes Agroforstsystem. Entlang des Grabens wachsen Kulturhaselnuss, Kornellkirsche und Mandel, eingebettet in Kr?uter und Beeren. Die B?ume lockern den Boden auf und f?rdern so die Versickerung. Eine Futterhecke für Rinder und verschiedene Gemüsesorten runden den Baumstreifen zur Weide hin ab. Die dichte Bepflanzung verhindert, dass Unkraut die Rinne überwuchert, und wirft zugleich eine vielf?ltige Ernte ab.
Nachhaltig bauen
Dieser Text ist in der Ausgabe 25/03 des ETH-????Magazins Globe erschienen.
Auf den Grund gehen
Inspiriert wurde Dalbert von den Keyline-Pionieren Philipp Gerhardt und Katja Degonda sowie vom Reallabor Jurapark Aargau – einer gemeinsamen Initiative des ETH-Bereichs und des regionalen Naturparks Jurapark Aargau, finanziell unterstützt vom ETH-Rat. Im Reallabor testen Forschende der ETH Zürich, WSL, Eawag und Empa mit Bewohnerinnen und Bewohnern des Parks praktische Ideen zur nachhaltigen Entwicklung. In mehreren Workshops haben sie vier Experimente zum Thema Wassermanagement, Klimaanpassung und Kreislaufwirtschaft ausgearbeitet. Das Projekt ?Vom Regen zur Ressource Wasser? erforscht das Potenzial von Keyline-Design in der Landwirtschaft.
?Mir gef?llt, dass dieses Forschungsprojekt aus dem Interesse der Gesellschaft hervorgeht?, sagt Umweltingenieurin Anna Leuteritz von der WSL. Sie ist am heutigen Tag im Juni gemeinsam mit dem Hydrologen Manfred St?hli und dem Zivildienstleistenden Laurin Nüesch angereist, um erste Messungen an Dalberts Keyline durchzuführen. Sie sollen zeigen, wie gut das System Wasser in der Landschaft speichert. Nach einer kurzen Besprechung, wo die Bodenproben entnommen werden sollen, packen die drei Spaten, Schlegel und eine Box mit Utensilien. Bald erklingen tatkr?ftige Schl?ge auf der Weide: Leuteritz h?mmert den metallischen Schneidring in die Erde. Ein gekonnt gesetzter Spatenstich befreit den Zylinder anschliessend wieder aus dem Boden. Die darin befindliche Bodenprobe l?st Nüesch mit einem Messer heraus und verpackt sie in eine Plastiktüte. Die Forschenden werden die Probe anschliessend im Labor auf den aktuellen Wassergehalt und die Bodenzusammensetzung analysieren.
Vor zehn Tagen hat St?hlis Team bereits eine Wetterstation und zwanzig Sensoren installiert. Diese messen alle zehn Minuten verschiedene Parameter wie Saugspannung, Wassergehalt, Bodentemperatur und elektrische Leitf?higkeit in zehn und fünfzig Zentimeter Tiefe. Zus?tzliche Messger?te der Eawag ermitteln den Grundwasserstand. Auf seinem Smartphone zeigt St?hli die ersten Graphen der Saugspannung in Abh?ngigkeit von Zeit und Wetter. ?Ich bin gespannt, was die Keyline tats?chlich bewirken kann?, erz?hlt er im Schatten des Kofferraumdeckels stehend. Auch er ist dank des Reallabors mit Keyline-Design in Kontakt gekommen und m?chte nun dessen Potenzial ergründen. Auf einem Versuchsgel?nde nahe der WSL wird er diesen Herbst ebenfalls ein Keyline-Experiment aufbauen. W?hrend Leuteritz noch die GPS-Daten der Probenstandorte ermittelt, r?umen St?hli und Nüesch die Ausrüstung zurück ins Auto. Mit einem Nicken erkl?ren die Forschenden die Messungen als beendet und steigen ein.
Malerische Windungen
Auf der Weiterfahrt zum n?chsten Hof zeigt sich die hügelige und gleichsam vielf?ltige Landschaft des Juraparks. Hochstammobstg?rten wechseln sich mit Rebbergen und Kornfeldern ab; die Hügel meist gekr?nt mit etwas Wald. Dalbert ist nicht der Einzige, der hier mit Klimawandel und Bodenfeuchte k?mpft. Aufgrund der Lage im Tafel- und Kettenjura sind die B?den im Jurapark eher flachgründig. Sie trocknen bei Hitze schnell aus und k?nnen starken Regen nicht schnell genug aufnehmen. Das Wasser fliesst dadurch oberfl?chlich ab und führt zu Erosion. Keyline-Design ist ein m?glicher Ansatz, wie Wasser verlangsamt, gespeichert, versickert und verteilt werden kann.
Der Hof ?bertsmatt in Oberb?zberg, wo das Team nach 25 Minuten Fahrt h?lt, hat bereits ein grossr?umigeres Wassermanagementsystem angelegt. Hier zeigt sich die ?sthetik von Keyline-Design: In anmutigen Kurven schmiegen sich die Baumreihen an die Gel?ndekuppe, rhythmisch erg?nzt von Stein- und Asthaufen als Habitat für Kleintiere. Anstatt mit Gr?ben arbeitet Familie Treier mit zwanzig bis dreissig Zentimeter hohen W?llen, die das Wasser zurückhalten. Auf ihnen wachsen Obst- und Waldb?ume. Damit das Land mit den Maschinen bewirtschaftbar bleibt, sind die Abst?nde gross und die W?lle folgen nicht exakt den H?henlinien.
R?umliche Muster erkennen
Kurz nach dem WSL-Fahrzeug rollt ein metallisch gl?nzender BMW ger?uschvoll auf den Kiesplatz des Betriebs. Zwei junge M?nner mit Baseball-Caps steigen aus und ?ffnen den Kofferraum. Darin befindet sich eine siebzig Zentimeter hohe Drohne mit s?uberlich eingefalteten und gepolsterten Rotoren. St?hli hat die beiden Spin-off-Gründer Derek Houtz und Lars Horvath von TerraRad angefragt, mit ihrer Drohne über das Gel?nde zu fliegen. Der angeh?ngte Mikrowellenradiometer misst dabei die Bodenfeuchte in zehn Zentimeter Tiefe.
Im Gespr?ch mit den Forschenden passt Horvath die Flugroute auf seinem Laptop an und nimmt dann die Fernbedienung in die Hand. In nur zehn Minuten hat die Drohne ihren Job erledigt. Danach kann Houtz die aus den Daten berechnete Feuchtigkeitskarte auf dem Handy ?ffnen. Die erste Sichtung zeigt eine erh?hte Bodenfeuchte im Bereich der Keyline. St?hli und Leuteritz werden die Karte sp?ter mit ihren Messwerten abgleichen. Sie interessiert vor allem, welche r?umlichen Muster man in der Aufnahme erkennen kann.
Das Spin-off der WSL entstand w?hrend der Coronapandemie 2020. Seit Langem hegte Raumfahrtingenieur Houtz die Idee, die für Satelliten übliche Fernerkundungstechnik auf einer Drohne zu montieren, um h?her aufgel?ste Aufnahmen als jene aus dem Weltall zu erhalten. So packte er die Gelegenheit beim Schopf und begann, w?hrend der Quarant?ne zu Hause an entsprechenden Messger?ten zu basteln. Nach der ersten Publikation kamen mehrere Forschende auf ihn zu, die die Technologie für ihre Arbeit nutzen wollten. ?Wir m?chten, dass die Drohne zu einem vertrauenswürdigen Messinstrument für Bodenfeuchte wird?, erkl?rt Houtz. Im Reallabor kann das Spin-off Erfahrungen sammeln, wie die Drohne für Feldarbeit und Landwirtschaft eingesetzt werden kann. Derzeit nutzen, neben Forschenden, vor allem Golfpl?tze die Sensorik, um gezielt und sparsam zu bew?ssern.
Forschung für die Praxis
Im Reallabor fliesst Wissen in zwei Richtungen: W?hrend Forschende regionale Bedürfnisse und Wissen zu lokalen Gegebenheiten erfahren, erhalten Landwirtinnen und Landwirte Zugang zu Daten und Fachwissen. ?Wir arbeiten auf Augenh?he?, betont Philipp Lischer von der ETH Zürich, der das Reallabor gemeinsam mit Tim Geiges von der WSL leitet. Fast jeden Monat organisieren die beiden einen Event, bei dem ein aktuelles Experiment besucht, besprochen und weiterentwickelt wird. Die Anl?sse erm?glichen, den Dialog mit der Gesellschaft zu pflegen und enger mit der Praxis zusammenzuarbeiten.
In solchen Momenten zeigt sich, wie stark das Reallabor zur sozialen Vernetzung beitr?gt. Dank der neuen Kontakte und der erarbeiteten Infrastruktur kann St?hli im n?chsten Jahr ein Doktorat zum Thema Keyline-Design anbieten. Im kommenden Herbstsemester werden auch ETH-Studierende der Landschaftsarchitektur und Agrarwissenschaften im Keyline-Projekt integriert. Sie entwerfen innovative Keyline-Designs für Betriebe im Jurapark Aargau und besch?ftigen sich mit politischen und gesellschaftlichen Hindernissen.
Wie die Keyline den Regen auf andere Wege führt, so nimmt auch die Wissensproduktion im Reallabor einen neuen Verlauf: Sie verbindet dabei die Expertise der unterschiedlichen ETH-Institute miteinander und mit der Praxis. ?Das Reallabor hat die Chance, Vertrauen in Forschung zu schaffen?, fasst Dalbert seine Sicht aus der Praxis zusammen. Des ?fteren h?rt er in der Landwirtschaft den Spruch ?Wer studiert, verliert?. Vielleicht kann das Reallabor diese Binsenweisheit erodieren und schon bald sagt man sich auf dem Acker: Wer mit der Forschung Hand in Hand geht, kann gewinnen.