KI und erweiterte Realität helfen bei der Erhaltung des gebauten Kulturerbes

Erbaut zwischen 1170 bis 1235, ist die Kathedrale Notre-Dame in Lausanne die gr?sste gotische Kirche der Schweiz. Im Lauf der Zeit wurde der imposante Bau immer wieder ver?ndert, erg?nzt und restauriert. So erhielt der fast 80 Meter hohe Laternenturm mehrfach ein neues Aussehen, zuletzt am Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge einer umfassenden Restaurierung. Der f¨¹r den Bau der Kathedrale verwendete Stein ist ¨C wie bei vielen anderen historischen Bauwerken im Schweizer Mittelland ¨C besonders anf?llig f¨¹r Abbauprozesse, die durch Wasser beg¨¹nstigt werden, etwa Gefrieren, Quellen oder Luftverschmutzung. Deshalb sind konservatorische Massnahmen, besonders ¨C aber nicht ausschliesslich ¨C der Umgang mit Wasser, bei einer Kathedrale eine st?ndige Herausforderung.  

Extended Reality in der Denkmalpflege 

Forschende der ETH Z¨¹rich haben nun in mehreren wissenschaftlichen Publikationen aufgezeigt, wie digitale Werkzeuge die Arbeit von Konservator:innen unterst¨¹tzen k?nnen. Hintergrund ist das Forschungsprojekt ?Heritage++? am ETH-Institut f¨¹r Baustoffe. Robert Flatt, Professor f¨¹r Physikalische Chemie der Baustoffe, leitet das Projekt, das dem ETH-Zentrum Design++ angegliedert ist. Dieses untersucht, wie sich computergest¨¹tzte Methoden f¨¹r Architektur, Ingenieur- und Bauwesen nutzen lassen. Das Projekt ?Heritage++? seinerseits fokussiert auf den Einsatz von erweiterter Realit?t (engl. Extended Reality XR) und K¨¹nstlicher Intelligenz (KI) zur Restaurierung historischer Geb?ude. 

Das wichtigste Ergebnis dieser Forschung ist ein immersiver Co-Pilot, also eine Art virtueller Helfer, der Konservator:innen bei ihren Aufgaben hilft. Dieser Co-Pilot baut auf Technologien des r?umlichen Computings auf. Diese analysieren den physischen Raum und ¨¹berlagern ihn mit digitalen Informationen oder Hologrammen, die sich ¨¹ber ein Tablet oder ein XR-Headset betrachten lassen. ?XR-Technologien haben ein enormes Potenzial, die interdisziplin?re Zusammenarbeit zwischen Expert:innen aus Architektur, Materialwissenschaft, Geschichte und Denkmalpflege zu erleichtern?, sagt Robert Flatt.  

In ihrem neuesten Artikel im International Journal of Architectural Heritage zeigen die Forschenden, wie sich Informationen zur strukturellen Analyse eines Bauwerks mithilfe von XR anschaulich darstellen und erweitern lassen, um Entscheidungsprozesse zu unterst¨¹tzen sowie um Wissen ¨¹ber kulturelles Erbe zu vermitteln. ?Unser Artikel stellt eine neue M?glichkeit vor, die Struktur des Geb?udes anschaulich darzustellen und interaktiv erfahrbar zu machen. Sowohl Fachpersonen aus unterschiedlichen Disziplinen als auch die breite ?ffentlichkeit k?nnen diese Einblicke so aktiv erkunden. Das hilft sicherzustellen, dass Stabilit?t und Sicherheit bei k¨¹nftigen Eingriffen sorgsam bedacht und ber¨¹cksichtigt werden?, erkl?rt Ricardo Maia Avelino, Postdoktorand bei Design++, der an der ETH Z¨¹rich ¨¹ber die strukturelle Analyse historischer Geb?ude promoviert hat. 

Digitaler Zwilling der Kathedrale Lausanne 

Die Kathedrale Notre-Dame in Lausanne dient als Fallstudie zur Entwicklung des digitalen Co-Piloten, die in zwei Schritten erfolgt: Zun?chst erstellten die Forschenden 3D-Modelle der Kathedrale auf der Grundlage von externe Seite Daten aus Laserscans und photogrammetrischen Aufnahmen. Anschliessend erg?nzten sie das Modell um detaillierte Informationen zu den Steinen in der Kathedrale: Jedem Sandstein-Element wurden ein Alter, eine mineralogische Charakterisierung und ein Degradationstyp zugeordnet. Aus diesen Informationen l?sst sich ablesen, wann ein Steinblock erstmals eingebaut wurde, woher er stammt und wie sehr er besch?digt ist. Die entsprechenden Daten stammten aus verschiedenen Quellen, unter anderem von Geolog:innen der Universit?t Lausanne. Derzeit deckt die Kartierung erst bestimmte Bereiche der Kathedrale ab. In den kommenden Jahren wollen die Forschenden diese multimodale Kartierung nun vervollst?ndigen. 

Wer nun die Kathedrale mit einem Tablet oder einem XR-Headset betritt, kann die entsprechenden Bereiche betrachten und erh?lt dann zu dem jeweils ausgew?hlten Element die Informationen zu Alter, Materialzusammensetzung und Sch?digung eingeblendet (siehe Video). ?Unser digitaler Co-Pilot erlaubt es Konservator:innen, sich bei Inspektionen vor Ort ein Bild ¨¹ber den Zustand des Monuments zu machen und weitere relevante Informationen zu erhalten. Danach k?nnen sie anhand der Schwachstellen das passende Vorgehen f¨¹r die Restaurierung festlegen?, sagt Yamini Patankar, die als Doktorandin am Projekt mitwirkt und dabei von einem Bundes-Exzellenz-Stipendium profitiert. 

Klimaresiliente Sanierungsstrategien 

Beim Restaurieren historischer Geb?ude gilt heute der Grundsatz, m?glichst viel der urspr¨¹nglichen Bausubstanz zu erhalten. Damit dies gelingt, untersuchen die ETH-Forschenden, wie genau die Sch?den am Sandstein entstehen. Wasser spielt dabei eine zentrale Rolle ¨C vor allem Regen. W?hrend sich senkrechter Regen durch bauliche Massnahmen abhalten l?sst, ist windgetriebener Regen unkontrollierbar. Besonders extreme Ereignisse, die das Gestein schnell und stark durchn?ssen mit anschliessend raschem Austrocknen gelten als die Hauptursachen von Sch?den. Sie sind stark ortsabh?ngig.  

Bei solchen Ereignissen dringt Feuchtigkeit in den tonhaltigen Sandstein der Kathedrale ein und verursacht Sch?den durch Prozesse wie Aufquellen, Salzkristallisation oder Frost. Um die Schadensentstehung und den Einfluss der Luftverschmutzung zu verstehen, messen die ETH-Forschenden seit Jahren den windgetriebenen Regen, das lokale Mikroklima und die Feuchtigkeitsverteilung im Stein mithilfe eines Sensornetzwerks rund um die Kathedrale. 

Zudem entwickeln die ETH-Forschenden ein Modell, das den lokalen Einfluss ¨C besonders den windgetriebenen Regen ¨C mit den beobachteten Schadensformen und -ausmassen verkn¨¹pft. Expert:innen k?nnten dieses Modell nutzen, um vorherzusagen, wie sich Sch?den k¨¹nftig ver?ndern k?nnten ¨C nicht nur durch den Lauf der Zeit, sondern in Bezug auf den Klimawandel und namentlich mit Blick auf die Art, Intensit?t und H?ufigkeit extremer Wetterereignisse bei der Kathedrale. Auf dieser Grundlage liessen sich massgeschneiderte Restaurierungsstrategien entwickeln und die Dauerhaftigkeit von Restaurierungsmassnahmen verbessern, indem die Folgen des Klimawandels fr¨¹hzeitig ber¨¹cksichtigt w¨¹rden ¨C was eine echte Herausforderung f¨¹r die Praxis darstellt. 

Auf andere Geb?ude ¨¹bertragbar 

Digitale Werkzeuge wie 3D-Modelle oder Heritage Building Information Modelling sind im Bereich des Kulturerbes nichts Neues. Das Projekt ?Heritage++? geht jedoch einen Schritt weiter: Es verkn¨¹pft Informationen aus verschiedenen Fachgebieten mit einem Schwerpunkt auf der Denkmalpflege. Zudem macht es diese Informationen interaktiv nutzbar und erm?glicht es, das praktische Wissen und die Erfahrung von Konservator:innen einzubeziehen. In Zukunft k?nnte der digitale Co-Pilot, wie er an der Kathedrale von Lausanne eingesetzt wird, auch f¨¹r andere Sandsteinbauten wie Br¨¹cken, Burgen oder Kl?ster genutzt werden ¨C und mittelfristig f¨¹r Geb?ude aus anderen Materialien. 

Christophe Amsler, der f¨¹r die Lausanner Kathedrale verantwortliche Architekt, ist ¨¹berzeugt, dass digitale Technologien ein fester Bestandteil der Denkmalpflege sein werden: ?Historische Bauwerke zu erhalten, erfordert kontinuierliche Pflege und Aufmerksamkeit. Technologische Fortschritte k?nnen uns helfen, diese Geb?ude zu reparieren und lebendig zu halten. Gleichzeitig m¨¹ssen wir dem urspr¨¹nglichen Geist und dem kulturellen Erbe des Baudenkmals treu bleiben.? 

Eine App zum 750 Jahr-Jubil?um 

Im Oktober wurde in Lausanne das 750 Jahr-Jubil?um der Kathedrale Notre-Dame gefeiert. Zu diesem Anlass entwickelten die ETH-Forschenden in ?Heritage++? eine App, die der breiten ?ffentlichkeit einen Einblick in die konservatorischen Arbeiten rund um die Kathedrale gibt. ?Besucherinnen und Besucher der Kathedrale k?nnen ¨¹ber die App unter Einbezug von Extended-Reality-Technologien Informationen zur Geschichte des Geb?udes abrufen und erfahren, welche Konservierungsarbeiten im Gange sind und was dahintersteckt?, sagt ETH-Doktorandin Camilla Tennenini aus der Gruppe von Robert Flatt. 

Die App verbindet eine breite Palette von Fachliteratur und dar¨¹ber hinaus Videoaufnahmen, in denen Expert:innen die Restaurierungsarbeiten erl?utern. Diese Informationen werden zus?tzlich direkt an der Kathedrale visualisiert ¨C mithilfe des bereits erw?hnten 3D-Modells sowie Augmented Reality. Besucher:innen k?nnen sie innerhalb und ausserhalb der Kathedrale ¨¹ber ein Smartphone oder Tablet aufrufen. 

?ber das 750-Jahr-Jubil?um hinaus wird der Co-Pilot selbst im Rahmen des Projekts ?Heritage++? um ein KI-Sprachmodell erweitert, das Informationen aus Fachliteratur und Videos bezieht. So k?nnen Konservator:innen k¨¹nftig direkt auf der Baustelle auf relevante Informationen ¨¹ber die Restaurierungsarbeiten zugreifen. Mittelfristig soll auch die ?ffentlichkeit die App nutzen k?nnen, um Fragen zu den Renovierungen der Kathedrale zu stellen.