Bessere ETH-Ingenieur:innen dank inklusiver Wohnform
In der ersten inklusiven ParaWG der Schweiz leben Studierende der ETH Zürich und Menschen mit Querschnittl?hmung zusammen. Die Studierenden sollen auf Grundlage dieser Erfahrung helfen, die Welt zug?nglicher zu machen.?
In Kürze
Zusammen mit der ETH Zürich und der Universit?tsklinik Balgrist hat das Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) die erste ?inklusive ParaWG? der Schweiz er?ffnet.
Dort wohnen ETH-Studierende mit Menschen mit Mobilit?tsbeeintr?chtigungen zusammen. W?hrend letztere ein Wohntraining absolvieren, werden die Studierenden sensibilisiert für die Herausforderungen, denen Menschen mit k?rperlichen Beeintr?chtigungen im Alltag begegnen.
Die Studierenden sollen diese Lebenserfahrung kombiniert mit ihrer universit?ren Ausbildung nutzen, um neue Entwicklungen besser an die Bedürfnisse der Kund:innen anzupassen.
Es gibt Wissen, das auch an den besten Hochschulen nicht gelehrt werden kann. Weder im Labor noch im H?rsaal. Oliver Stoller kennt diese Herausforderung nur zu gut. Er leitet das Kompetenzzentrum für Rehabilitation Engineering and Science (RESC) an der ETH Zürich. Das Zentrum konzentriert sich auf die Entwicklung von technischen L?sungen zur Linderung oder Unterstützung k?rperlicher Einschr?nkungen. ?Wir k?nnen den Studierenden das technische und handwerkliche Rüstzeug mitgeben, um Assistenzger?te für Menschen mit Behinderung zu entwerfen und zu bauen?, sagt er.
Schwieriger sei es, ihnen zu vermitteln, wie die Bedürfnisse der Betroffenen in technische Anforderungen übersetzt werden k?nnen. ?Ingenieurinnen und Ingenieure neigen dazu, den Menschen und seine Rolle in der Gesellschaft zu mechanistisch zu betrachten und etwaige Probleme rein technisch zu l?sen?. Dabei übersehen sie manchmal, was wirklich gebraucht wird. Dies beeinflusst zum Beispiel die Akzeptanz von neuartigen Assistenzger?ten. Die inklusive ParaWG im Zürcher Seefeld ist ein innovativer Weg, diesem Problem zu begegnen: Ihr Ziel ist es, ETH-Studierenden die M?glichkeit zu geben, die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung besser zu verstehen.
Wie gelingt der Perspektivenwechsel?
Die Idee zur inklusiven ParaWG entstand aus einer Kooperation der ETH Zürich, dem Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) und der Universit?tsklinik Balgrist. Das SPZ betreibt mehrere sogenannte ParaWGs, Wohngemeinschaften also, in denen Menschen mit einer Querschnittl?hmung ein Wohntraining absolvieren, um sp?ter m?glichst selbstbestimmt leben zu k?nnen. Dabei werden sie von Mitarbeitenden des Paraplegiker-Zentrums unterstützt und betreut.
Dieses Konzept wurde dahingehend erweitert, dass mit den querschnittgel?hmten Menschen neu auch Studierende der ETH Zürich einziehen. In der ersten inklusiven ParaWG wohnen Menschen mit und ohne Querschnittl?hmung zusammen, womit das Wohntraining mit einem inklusiven Lebensmodell verbunden wird, bei dem die gegenseitige Unterstützung im Zentrum steht. Die Studierenden der ETH k?nnen ausserdem die kleinen und grossen Hürden miterleben, die eine für Fussg?ngerinnen und Fussg?nger gebaute Welt für Rollstuhlfahrende bereith?lt. Dank der finanziellen Beteiligung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung konnte die Wohngemeinschaft im September dieses Jahres in einer 13-Zimmer-Clusterwohnung für soziale Projekte in einer st?dtischen Siedlung im Zürcher Seefeldquartier er?ffnet werden.
Barrieren bewusster wahrnehmen
Gut zwei Monate nach dem Start wohnen fünf ETH-Studierende und zwei Rollstuhlfahrerinnen in der WG – mittelfristig sollen es fünf mehr sein ?Eigentlich ist es eine ganz normale WG?, sagt ETH-Studentin Amelie Grossmann. ?Abgesehen davon, dass einige von uns im Rollstuhl sitzen.? Man hilft sich gegenseitig und unternimmt gelegentlich etwas zusammen. Grossmann besucht das Masterprogramm Biomedical Engineering und entspricht damit pr?zise der Zielgruppe der inklusiven ParaWG. Seit sie dort wohne, nehme sie Barrieren bewusster wahr, so die Studentin. Und diese sind zahlreich.
Delia Guggenheim ist als zweite Rollstuhlfahrerin in die WG gezogen. Erst im M?rz wurde sie in einen schweren Unfall verwickelt, der für die Psychologiestudentin und passionierte Sportlerin mit einer Querschnittl?hmung endete. Als sie das erste Mal mit dem Rollstuhl das Haus verliess, fiel sie aus allen Wolken: ?Mich hat es überrascht, wie schwierig die Welt für Rollstuhlfahrer ist?, sagt Guggenheim. ?berall g?be es Hindernisse und selbst bei rollstuhlg?ngigen Trams seien oft kleine Schwellen zu überwinden, wenn man mit dem Rollstuhl einsteigen will.
In der inklusiven ParaWG ist sie aus pragmatischen Gründen. Sie brauchte eine Unterkunft bis ihre Wohnung fertig umgebaut ist und m?chte so schnell wie m?glich lernen, selbst?ndig zu leben. Sie ist vom Konzept überzeugt: ?So f?ngt Ver?nderungen an. Wenn Nichtbetroffene früh für solche Themen sensibilisiert werden, dann k?nnen sie das sp?ter in ihrem jeweiligen Fachgebiet auch umsetzen und die Welt ein bisschen rollstuhlfreundlicher machen.?
?Innovation braucht mehr Realit?tsbezug?
Jetzt geht es darum, Wege zu finden, wie die Studierenden ihre Erfahrungen ins Studium und in konkrete Projekte einbringen k?nnen – dazu entwickeln die Forschungsabteilungen der Projektpartner aktuell m?gliche Konzepte. Parallel dazu werden wird nach M?glichkeiten gesucht, das Konzept weiter zu skalieren und weiteren Studierenden zug?nglich zu machen.
?Nachhaltige Innovation und Inklusion braucht mehr Realit?tsbezug?, ist Stoller vom RESC überzeugt. Entsprechend hofft er, weitere ?hnliche Angebote lancieren zu k?nnen um noch mehr Studierenden diese Lebenserfahrung als Teil ihrer Ausbildung zug?nglich zu machen. ?Die Erfahrungen aus der inklusiven ParaWG werden die Studierenden ihr Leben lang begleiten und somit ihre Karriere positiv beeinflussen.?