«Der Europäische Forschungsrat braucht unsere Unterstützung»
Die ETH-Professorin Nicola Spaldin wird Anfang 2026 eines der Vizepr?sidien des Europ?ischen Forschungsrats übernehmen. Was diese Rolle für die Spitzenforscherin bedeutet, erkl?rt sie im Interview.
Nicola Spaldin ist Professorin für Materialtheorie an der ETH Zürich und seit 2021 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des externe Seite Europ?ischen Forschungsrats (European Research Council, ERC). Nun übernimmt sie externe Seite eines von drei Vize-Pr?sidien dieses Gremiums, das die europ?ische Forschungslandschaft seit seiner Gründung im Jahr 2007 stark pr?gt. ERC-F?rdergelder sind heute ein breit anerkanntes Gütesiegel für Spitzenforschung.
Nicola Spaldin, Sie übernehmen ab Anfang 2026 eine neue Rolle beim Europ?ischen Forschungsrat ...
Nicola Spaldin: … und behalte meine alte – meine Professur an der ETH Zürich (lacht).
Freuen Sie sich auf Ihr neues Amt?
Ja, es ist aufregend, und Forschungspolitik interessiert mich. Ich bin schon seit ein paar Jahren Mitglied im Scientific Council des ERC, deshalb bin ich mit der neuen Rolle vertraut.
Was ?ndert sich für Sie?
Der Wissenschaftsrat ist das Leitungsgremium des ERC und zust?ndig für die Finanzierungsstrategie. Als eine der Vizepr?sidentinnen werde ich die Aktivit?ten im Bereich ?Physical Sciences and Engineering? koordinieren. Ich trage mehr Verantwortung und sorge dafür, dass der Prozess der fachlichen Begutachtung der Antr?ge reibungslos l?uft. Dadurch werde ich sichtbarer und erhalte mehr M?glichkeiten, die Forschungspolitik zu beeinflussen.
Zur Person
Nicola Spaldin ist seit 2011 Professorin für Materialtheorie an der ETH Zürich mit Schwerpunkt auf multiferroischen Materialien. Für ihre Forschungsarbeit wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem K?rber-Preis für Europ?ische Wissenschaft und dem L’Oréal-Unesco-Preis ?For Women in Science?. Sie engagiert sich leidenschaftlich für die Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte.
Wie bringen Sie die Pflichten als ETH-Professorin und als ERC-Vizepr?sidentin unter einen Hut?
Es wird herausfordernd, aber dank meines starken Teams an der ETH und der hervorragenden Unterstützung der ERC Executive Agency l?sst sich beides meistern. Meine Lehrverpflichtungen, die mir als ETH-Professorin sehr am Herzen liegen, werde ich sicherlich nicht vernachl?ssigen. Bei der diesj?hrigen Rekrutierungsrunde für mein Forschungsteam habe ich mich jedoch auf Postdoktoranden statt auf Doktoranden konzentriert, um noch genügend Zeit für das von mir gewünschte Mass an Betreuung und Zusammenarbeit zu haben. Ebenfalls aufgegeben habe ich die Redaktion eines Fachmagazins. Auch privat trete ich kürzer: Ich werde an den Wochenenden weniger Skitouren unternehmen und an den Abenden weniger Kammermusik machen.
Sie geben einiges auf, was Sie gerne m?gen. Was erhoffen Sie sich von dem Amt? Ist es das wert?
Ich denke, dass das Engagement beim ERC sehr wichtig ist. Der ERC geniesst in der Wissenschafts-Community breite Anerkennung als einzigartiger und wertvoller Geldgeber – er ist das Juwel der europ?ischen Forschungsf?rderung. Wir stehen denjenigen Kolleginnen und Kollegen, die ihn vor 20 Jahren aufgebaut haben, tief in der Schuld. Es ist deshalb wichtig, dass aktive Wissenschaftler:innen auch die Zukunft des ERC bestimmen.
Wie sieht die Zukunft des ERC aus?
Das EU-Forschungsrahmenprogramm ?Horizon Europe? l?uft Ende 2027 aus. Damit muss die europ?ische Politik auch die rechtliche Grundlage und den Budgetrahmen des ERC für das n?chste siebenj?hrige Rahmenprogramm neu best?tigen. Das ist an sich ein normales Vorgehen. Der ERC braucht jedoch dringend ein h?heres Budget. Derzeit k?nnen wir nur die H?lfte der Antr?ge finanzieren, die unsere Expertengremien als exzellent eingestuft haben. Zudem wurden die Grants noch nie an die Inflation angeglichen; darüber hinaus ist die Autonomie des ERC gef?hrdet, da die EU-Kommission ?nderungen der Governance-Struktur des ERC vorschl?gt, beispielsweise eine Amtszeitbeschr?nkung für die Pr?sidentin. Die kommenden zwei Jahre sind deshalb für die Zukunft des ERC von entscheidender Bedeutung.
Was heisst das für Ihre Arbeit beim ERC?
Meine wichtigste Aufgabe sehe ich darin: alles zu tun, um die Zukunft des ERC zu sichern, damit die kommende Generation eine solide Basis vorfindet, auf der sie das n?chste Forschungsprogramm aufbauen kann. Wir müssen sicherstellen, dass alle ERC-Unterstützerinnen und -Unterstützer den Politikerinnen und Entscheidungstr?gern aufzeigen, wie wichtig der ERC ist – nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Gesellschaft und die Wirtschaft. Anhand von Beispielen müssen wir aufzeigen, wie Pionierforschung die Grundlage für wirtschaftliche Innovationen legt – sowohl in der EU als auch in der Schweiz. Die Forschungsf?rderung des ERC geh?rt weltweit zu den wirksamsten und erfolgreichsten. Deswegen setze ich mich mit Leidenschaft dafür ein, dass es weitergeht.
Was m?chten Sie als Vizepr?sidentin erreichen?
Ich m?chte erreichen, dass der ERC nach 2028 fortgeführt wird – mit einem h?heren Budget und gr?sserer Autonomie. Ein doppelt so hohes Budget würde es uns erlauben, alle als exzellent bewerteten Antr?ge zu unterstützen und die H?he der Grants an die Inflation anzupassen. Um neue, zukunftstr?chtige Finanzierungsinstrumente einzuführen, muss das Budget sogar mehr als verdoppelt werden. Ausserdem habe ich ein pers?nliches Interesse an der Rolle der künstlichen Intelligenz in der Forschung und Forschungsbewertung. Der ERC hat seit seiner Gründung Pionierforschung im Bereich der KI gef?rdert und befindet sich nun in der idealen Position, sowohl die Chancen als auch die Risiken der KI im Forschungs?kosystem zu untersuchen.
Derzeit ist es jedoch sehr schwer, mehr Geld für die Forschung zu erhalten. Beispielsweise müssen alle europ?ischen L?nder mehr in Sicherheit und Verteidigung investieren.
Natürlich ist Sicherheit wichtig, und ohne Pionierforschung von heute gibt es morgen keine neuen Technologien – weder für das Gesundheitswesen noch für die Infrastruktur oder die Verteidigung. Der erste Entwurf des n?chsten Rahmenprogramms sieht eine Verdoppelung des ERC-Budgets vor. Diese Budgeterh?hung müssen die Mitgliedstaaten und das Europaparlament erst einmal bewilligen. Bisher haben die Parlamentarier:innen die Forschungsfinanzierung stark unterstützt. Wir sollten uns jedoch nicht darauf verlassen, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Wir müssen ihnen deshalb weiterhin aufzeigen, wie wichtig Pionierforschung ist – insbesondere angesichts der konkurrierenden Nachfragen nach finanzieller Unterstützung.
Mitte November haben der Bundesrat und die EU-Kommission ein Abkommen unterzeichnet, das die Schweiz wieder vollst?ndig assoziiert und es Schweizer Forschenden erm?glicht, sich direkt für ERC-Projekte zu bewerben. Wird das Ihre Arbeit beeinflussen?
Als Schweizer Bürgerin und Mitglied des Wissenschaftsrats des ERC freue ich mich sehr darüber, dass die Schweiz wieder dabei ist. Die Welt steht vor so vielen Herausforderungen, und um diese zu l?sen, brauchen wir die besten Forschenden – sowohl in den Physikalischen Wissenschaften und den Life Sciences als auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um den Talentpool zu zersplittern; es ist unerl?sslich, dass alle L?nder so aktiv und umfassend wie m?glich in die wissenschaftliche Zusammenarbeit eingebunden werden. Ich hoffe, dass wir den Schweizer W?hlern vermitteln k?nnen, wie wichtig die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit für die Schweiz und darüber hinaus ist, damit unsere Assoziierung mit Horizon Europe nicht an der Urne gekippt wird.
Die Gegner werden sagen, es brauche Europa nicht, um Schweizer Spitzenforschung zu f?rdern. Der Schweizerische Nationalfonds habe schliesslich gezeigt, dass er in die Bresche springen k?nne, wenn die EU-Gelder nicht fliessen.
Es reicht nicht aus, die Gelder durch SNFS-Grants zu ersetzen. Das war als kurzfristige L?sung wichtig. Aber das ist kein Ersatz dafür, dass sich Schweizer Forschende auf internationaler Ebene messen und mit anderen zusammenarbeiten. Das ist, als würden Schweizer Top-Athletinnen und -Athleten nicht an Olympischen Spielen teilnehmen, sondern nur noch an lokalen Wettbewerben mit gleich hohem Preisgeld. Für Pionierforschung ist die Zusammenarbeit der besten K?pfe Europas und der Welt unerl?sslich.
Der Europ?ische Forschungsrat
Der externe Seite Europ?ische Forschungsrat (ERC) wurde im Jahr 2007 von der Europ?ischen Union gegründet. Er ist die führende F?rderorganisation Europas für exzellente Pionierforschung und stattet Forschende jeder Nationalit?t und jedes Alters mit Finanzmitteln für Projekte in ganz Europa aus. Der ERC bietet vier Hauptf?rderprogramme an: ?Starting Grants?, ?Consolidator Grants?, ?Advanced Grants? und ?Synergy Grants?. Mit dem Programm ?Proof of Concept Grant? unterstützt der ERC Stipendiat:innen ausserdem dabei, die Lücke zwischen ihrer Forschung und den frühen Phasen der Kommerzialisierung zu schliessen. Das Gesamtbudget für den Zeitraum 2021 bis 2027 im Rahmen des Programms ?Horizon Europe? bel?uft sich auf mehr als 16 Milliarden Euro. Derzeitige Pr?sidentin des ERC ist Maria Leptin.