In einem ehemaligen Werktunnel der Matterhorn Gotthard Bahn wollen Forschende der ETH Zürich Gestein in Bewegung setzen. Ein Augenschein im Berg.

Zwei Personen in Schutzkleidung installieren eine Metallstruktur in einem Tunnel.
Die Doktorandin Kathrin Behnen und der Masterstudent Giovanni Stecca führen eine Logging-Sonde in ein Bohrloch ein, um dieses zu untersuchen. (Bild: Daniel Winkler / ETH Zürich)

Die Postautohaltestelle ?Bedretto, Bivio per Ronco? liegt fast im Nirgendwo. Wer hier aussteigt, steht unmittelbar vor einer Kiesgrube mit Baracken, schwerem Ger?t, Kippmulden, Kieshaufen. Es k?nnte irgendein Bauplatz sein, irgendwo in der Schweiz. Aber das ist es nicht: Dieses Gel?nde ist der Vorhof des BedrettoLab.

Anfang September 2025 geben die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der ?ffentlichkeit einen Einblick in ihre Arbeit. Denn nach Jahren der Vorbereitung und ersten Experimenten sind die Forschenden fast bereit für den Hauptakt, der im kommenden M?rz über die Bühne gehen soll: die Aktivierung einer tektonischen Bruchzone im Gestein und damit die Ausl?sung von winzigen Erdbeben – quasi auf Knopfdruck.

Im Festzelt warten bereits die Forschenden, alle in gelben Arbeitskleidern, der Helm leuchtet hellgelb, die Jacke, die Hose. Sie sehen aus wie Tunnelarbeiter und das sind sie gewissermassen auch. Sie bereiten die G?ste auf den Gang in den Berg vor. Alle erhalten einen Helm, eine Warnweste sowie eine Stabtaschenlampe. Und schliesslich ein Atemger?t im Format einer Handtasche. Im Notfall rettet dieses 4,5 Kilogramm schwere Ger?t Leben: Es erm?glicht, eine Stunde lang zu atmen – genug Zeit, um zurück zum Stolleneingang zu flüchten. Oder zum Furka-Bahntunnel.

Roboter auf Mission

Titelblatt Globe 25/04

Dieser Text ist in der Ausgabe 25/04 des ETH-????Magazins Globe erschienen.

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Geschlossen wandert die Gruppe zum Stolleneingang. Auf einem Banner über dem Eingang steht in grossen Lettern ?BedrettoLab – ETH Zürich?. Dann tauchen alle ein in den Berg und damit in ein weltweit einmaliges Felslabor: Tief unter dem Pizzo Rotondo im Gotthardmassiv hat ein internationales Forschungsteam in den vergangenen Jahren ein Labor eingerichtet. Hier m?chten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter anderem bis ins kleinste Detail untersuchen, wie Erdbeben ablaufen, was bei deren Ausl?sung geschieht, wie sie sich ausbreiten und wieder zum Stillstand kommen. FEAR nennt sich das Projekt, das durch den europ?ischen Forschungsrat mit einem Zuschuss von 13,7 Millionen Euro gef?rdert wird.

Das Projekt ?FEAR – Fault Activation and Earthquake Rupture? wird von den ETH-Professoren Domenico Giardini und Stefan Wiemer, von Florian Amann von der RWTH Aachen und von Massimo Cocco vom Istituto Nazionale di Geofisica e Vulcanologia, Rom, geleitet. Für dieses Experiment haben die vier Projektleiter einen ERC Synergy Grant eingeworben. Finanziert wird das Projekt unter anderem auch durch den Bund oder über Mittel der Werner Siemens-Stiftung. Das Projekt hat eine Laufzeit von neun Jahren.

Der Stollen ist nur wenige Meter breit, gerade mal so, dass ein Fahrzeug durchkommt. Rechts vom Fahr- und Gehweg rauscht ein Bach in einem Graben. Er führt das Wasser ab, das aus dem Gestein austritt. An den Tunnelw?nden entlang verlaufen Rohre, Kabel. Alte, l?ngst rostige Haken stecken im Felsen. Die Decke ist nicht verputzt. Rostige Gitter, die an der Decke festgeschraubt sind, verhindern, dass Steine herabfallen. Trotzdem bleibt der Helm w?hrend der ganzen Zeit auf dem Kopf.

Der FInger mit dem Material aus Gestein dran.
Schmieriges Gesteinsmehl weist auf die Aktivit?t der Bruchzone hin. (Bild: Daniel Winkler / ETH Zürich)

W?hrend des Marsches immer tiefer in den Tunnel hinein bleibt Florian Amann, einer der vier Projektleiter, pl?tzlich stehen. Er zeigt auf einen unscheinbaren Riss im Gestein und streicht mit dem Finger darüber. Auf der Fingerkuppe sammelt sich hellgrauer Schlamm: Gouge – so nennt der Experte dieses Material. Es zeigt den Forschenden an, dass sich hier in der Vergangenheit Erdbeben ereignet haben. Dabei haben sich zwei Gesteinsmassen wie zwei Mühlsteine aneinandergerieben und so dieses Steinmehl erzeugt, das durch eindringendes Wasser schmierig geworden ist. ?Dieses Material zeigt uns zuverl?ssig an, dass hier eine Bruchzone durch das Bergmassiv verl?uft?, erkl?rt Amann. Genau eine solche St?rzone haben die Erdwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler im Stollen gesucht. ?Diese Kontaktzone sieht zwar unspektakul?r aus, aber für uns ist sie Gold wert?, betont er. Diese Bruchzone m?chten die Forschenden nun ein bisschen ?kitzeln?, um winzige kleine Erdbeben auszul?sen. Dadurch wollen sie mechanische Prozesse untersuchen und verstehen, wie Erdbeben ausgel?st werden. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, die Vorhersage von Erdbeben zu verbessern. Denn exakte Prognosen, wann und wo sich Erdbeben ereignen werden, sind nach wie vor nicht m?glich.

?Erdbeben stellen eine der bedeutendsten Naturgefahren und eines der gravierendsten globalen Risiken dar, und ungeachtet intensiver Forschungsbemühungen in den vergangenen Jahrzehnten verfügen wir nach wie vor über ein unzureichendes Verst?ndnis?, konstatiert Stefan Wiemer, Direktor des Schweizerischen Erdbebendienstes an der ETH Zürich und einer der vier Projektleiter von FEAR. Das m?chten die Forschenden unter Tag jetzt ?ndern. Der Bedrettostollen ist für dieses Experiment geradezu ideal: Gesprengt wurde der Tunnel in den 1970er-Jahren für den Bau des Furka-Bahntunnels. Fünf Kilometer lang ist er und verbindet das Bedrettotal unter dem Pizzo Rotondo hindurch mit dem Bahntunnel. Nachdem der Bahntunnel fertiggestellt wurde, geriet der Bedrettostollen in Vergessenheit.

Als die Forschenden 2016 nach einem geeigneten Ort für ein Felslabor suchten, erinnerte sich der emeritierte ETH-Professor Simon L?w an den Seitentunnel. Wiemer und Kollegen inspizierten ihn – und waren begeistert. Genau so etwas musste es sein. ?Der Bedrettostollen war kaum erschlossen und niemand hatte ihn genutzt?, sagt Amann. Sie h?tten sich auch Stollen in aktiven Minen angesehen, dort sei es aber unm?glich, wissenschaftlich zu arbeiten, ?weil der kommerzielle Abbau im Vordergrund steht?, erg?nzt er. ?Hier k?nnen wir uneingeschr?nkt forschen.?

Hochsensible Messinstrumente

Die Besuchergruppe st?sst auf einen Abzweiger. Er ist hell erleuchtet; ein permanentes Dr?hnen und Tosen erfüllt die Luft. ?ber das gelbe Lüftungsrohr an der Decke str?mt Frischluft in die Kaverne. Es ist angenehm warm, w?rmer als draussen. ?Die Bohrarbeiten haben viel W?rme produziert?, erkl?rt Wiemer, ?deshalb ist es im Moment so gemütlich hier.? Den Seitentunnel liessen die Forschenden erst vor wenigen Monaten in den Fels treiben. Von hier aus werden sie die Bruchzone aktivieren. Um nichts zu verpassen und nichts dem Zufall zu überlassen, haben die Geowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zudem Dutzende von Bohrl?chern in den Felsen getrieben, insgesamt 3,6 Kilometer. Und die Bohrl?cher mit verschiedenen hochsensiblen Messinstrumenten und Sensoren ausgerüstet.

Die meisten Bohrl?cher dienen der ?berwachung der Vorg?nge im Gestein, andere der Injektion von Wasser, um die Beben auszul?sen. Die im BedrettoLab verbauten Seismometer etwa k?nnen Erschütterungen von einer Magnitude von minus 5 wahrnehmen. Die Energie, die dabei freigesetzt wird, reicht gerade mal aus, um die Gesteinsmassen wenige Mikrometer gegeneinander zu verschieben. ?Ein solches Messnetz direkt auf einer St?rzone gibt es sonst nirgends auf der Welt?, sagt Wiemer nicht ohne Stolz. Zwar gebe es ein weltweites Erdbebenmessnetz, aber die meisten Sensoren und Messinstrumente seien auf der Oberfl?che stationiert und damit weit von den Orten entfernt, wo Erdbeben effektiv entstehen.

Felsen versetzen

Nun m?chten die Forschenden die Früchte ihrer mehrj?hrigen Vorarbeit ernten. Entlang der Bruchzone wollen sie im M?rz 2026 winzige Beben von sehr kleiner Magnitude ausl?sen und detailliert analysieren, was vorher, w?hrend und nach dem Erdbeben an der Verwerfung geschieht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler suchen dann auch nach Anzeichen, die auf das bevorstehende Beben hinweisen. Dazu werden die Forschenden über Bohrl?cher hunderte von Kubikmeter Wasser mit hohem Druck in die Kontaktzone zwischen den beiden Gesteinsmassen pressen – so lange, bis sich diese ruckartig in Bewegung setzen, genauso wie zwei tektonische Platten im grossen Massstab.

Die Energie, die dabei frei werden wird, entspricht derjenigen eines Bebens von Magnitude 1. Das reicht aus, um die beiden Gesteinsk?rper gerade einmal einen Millimeter gegeneinander zu verschieben. ?Die Magnitude dieser künstlich erzeugten Erdbeben soll so klein sein, dass ausserhalb des BedrettoLab niemand etwas spürt?, betont Wiemer.

Eine heilige Barbare Statue befindet sich an der Tunnelwand.
Die Heilige Barbara, Schutzpatronin des Tunnelbaus, wacht über den Versuchsstollen. (Bild: Daniel Winkler / ETH Zürich)

Datenberge generieren und abtragen

All die Instrumente, wie etwa Seismometer oder Geophone, die die Forschenden in den letzten Monaten und Jahren in den Felsen versenkt haben, werden dann in Sekundenbruchteilen Millionen von Messpunkten aufzeichnen. Dank ihrer künstlich ausgel?ster Minibeben und den zahlreichen Sensoren, die im und auf dem Fels stecken, k?nnen die Forschenden jedes Detail des Bebens aufzeichnen und in Echtzeit mitverfolgen. Der Datenberg, den nur schon eine Messung erzeugen wird, ist daher mehrere Terabytes hoch.

Der Versuch wird kontinuierlich überwacht – in Echtzeit werden die Daten an die ETH Zürich übermittelt. Dort k?nnen die Versuchsleiterinnen und -leiter den Wasserdruck jederzeit so regulieren, dass die Situation nicht ausser Kontrolle ger?t – oder den Druck erh?hen, damit die Gesteinsmassen in Bewegung geraten. Amann schliesst allerdings eher aus, dass sich ein unkontrollierbares starkes Beben ereignet. ?Wir k?nnen froh sein, wenn wir die Gesteinsmassen überhaupt in Bewegung setzen k?nnen. ?ber unserer Experimentalstelle liegen mehr als 1000 Meter kompaktes Gestein von gesch?tzt 35 Millionen Tonnen Gewicht?, gibt er zu bedenken.

Aber lassen sich die Erkenntnisse aus diesem Versuch auch auf grosse Erdbeben anwenden? Beben, bei denen tektonische Platten über hunderte von Kilometern mehrere Meter gegeneinander verschoben werden, wie beispielsweise im Frühling 2025 in Myanmar beim Erdbeben, das eine Magnitude 7,7 erreicht hatte? ?Das ist eines der Ziele, das wir verfolgen: Die im BedrettoLab gewonnenen Erkenntnisse sollen auf Systeme von gr?sserem Massstab übertragbar sein?, betont Wiemer. ?Die Physik ist dieselbe, ob es sich nun um ein Minibeben von Magnitude 1 oder um ein gigantisches Beben von Magnitude 7 handelt.?

Im Wald befindet sich der Stolleneingang mit dem Bedrettolab Logo oberhalb.
Tor zur Unterwelt: der Eingang des BedrettoLab. (Bild: Daniel Winkler / ETH Zürich)

Zurück ans Tageslicht

Für die Besuchergruppe wird es Zeit, den Stollen zu verlassen, die Forschenden bleiben bei ihren Messger?ten und Apparaturen. Die Besucherinnen und Besucher machen sich auf den 2,5 Kilometer langen schnurgeraden Weg ans Tageslicht.

Es regnet draussen. Wolken verdecken die Gipfel um das Bedrettotal herum. Trotz des schlechten Wetters ist man froh, den grauen Himmel statt der grauen Tunneldecke zu sehen und frische Bergluft einzuatmen. Hier draussen und im Tal werden die Menschen nichts spüren, wenn die Forschenden im Inneren des Berges Minibeben ausl?sen. Aber vielleicht werden, wenn die Forschenden die Datenberge abgetragen und ausgewertet haben, diese Minibeben zu besseren Prognosen von Erdbeben führen – und die Talbewohnerinnen und -bewohner in Zukunft rechtzeitig vor einem echten, spürbaren Beben warnen.

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